Wie ich frei von Angst wurde

Das Geräusch quietschender Turnschuhschritte mischte sich mit den mal enthusiastischen, mal enttäuschten Rufen der Spieler. Es roch nach Gummi und nach Schweiß und mein Körper vibrierte; einerseits vor Freude und Endorphin, andererseits vor Erschöpfung. Wasser… Ich brauchte Wasser, unbedingt. Und eine kalte Dusche für meine Stirn, die sich anfühlte wie ein Stück ausgetrockneter Saharaboden in der Mittagssonne.

 

Seit Jahren hatte ich das erste Mal wieder Floorball gespielt und ohne den Druck des ehrgeizigen Vereins hinter mir überrascht registriert, wie viel Spaß mir das damals eigentlich gemacht hatte. Dass ich es tatsächlich vermisste. Gleichzeitig spürte ich meinen wackeligen Beinen nicht nur die sportliche Betätigung, sondern auch noch die Folgen der Lebensmittelvergiftung an, die ich mir zu Beginn der Woche zugezogen hatte. Vier Tage lagen nun dazwischen, doch anscheinend hatte die Zeit nicht ausgereicht, um die Reserven aufzufüllen, die ich zuvor auf überaus unschöne Art und Weise von mir gegeben hatte. Und dann noch diese Hitze… Die Turnhalle, in der ich mit Freunden gespielt hatte, war belüftet gewesen, doch der einzige Ort, an dem es momentan noch heißer war, als auf dem Feld, war draußen, sodass alle Bemühungen eher kontraproduktiv gewesen waren.

 

Während ich in die Umkleidekabine wankte, spürte ich, wie sich alles um mich herum zu drehen begann. Das Gefühl des plötzlichen Schwindels war mir in den vergangenen Jahren ein vertrauter Begleiter geworden, doch dieses Mal war es besonders stark. Die Holzbänke und der Linoleumboden verschwammen vor meinen Augen und ließen mich vor Schreck nach Luft schnappen.

 

„Anke, ich glaub, ich muss…“

 

Noch bevor ich den Satz beenden konnte, gaben meine Knie nach und ich lag ausgestreckt auf dem Boden. Mein Herz stolperte, raste und hämmerte wie verrückt unter meine Brust und ich rang verzweifelt nach Luft, - atmete krampfhaft gegen die altbekannte Angst an, die mir die Kehle zuschnürte. Das kalte Neonröhrenlicht von der Decke nahm mir zusätzlich die Sicht, doch auch mit geschlossenen Augen ebbte das Gefühl, nahe einer Ohnmacht zu stehen, nicht ab. Panisch suchten meine Finger am Boden nach etwas, an dem ich mich festhalten konnte, während ich das Gefühl hatte, völlig losgelöst von jeglicher Schwerkraft durch den leeren Raum zu taumeln.

 

Das war der Moment, in dem sich auch der letzte Rest eines rationalen Gedankens verabschiedete, der bis dahin vielleicht noch in irgendeiner Ecke meines Verstandes existiert hatte. Du stirbst., schoss es mir stattdessen durch den Kopf. Dein Kreislauf versagt. Du wirst ohnmächtig werden und nie wieder aufwachen. Und weißt du was? Du bist selbst schuld, denn du bist schwach und das wird sich nie ändern.

 

Gott. Gott!

 

Du stirbst du stirbst du stirbst.

 

Mein Atem ging flach und schnell, was natürlich nicht dazu beitrug, dass mir weniger schwindelig wurde. Von weit weg hörte ich, wie Anke, eine Freundin aus der Gemeinde, sich neben mich kniete und mir die Beine hochhielt, damit das Blut zurück in meinen Kopf fließen konnte. Ihre Stimme war ruhig. „Tief einatmen, Elena. Das geht gleich vorbei.“

 

Meine Hand fand ihre und ich zwang mich, die Augen zu öffnen und ihren Blick zu suchen.

„Das hatte ich noch nie.“, keuchte ich. „Ich habe solche Angst.“

„Wovor denn?“

„Ohnmächtig zu werden. Schwach zu sein.“ Keine Kontrolle zu haben.

„Wenn du ohnmächtig wirst, dann wachst du irgendwann auch wieder auf. Das hatte ich früher öfter mal.“

 

Dieser Satz schien so weit zu meinem logischen Denken durchzudringen, dass ich aufhorchte. Wenn Anke das auch gehabt hatte und noch lebte, dann musste ich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht sterben. Ich ergriff den rettenden Faden und schaffte es, die Vernunft wieder anzuschalten.

Ich würde nicht sterben. Das war nur eine weitere Lüge des Katastrophendenkens, das mich verfolgte, seit ich klein war. Dass ich umgekippt war, lag einzig und allein an der Hitze, zu wenig Trinken und den Spätfolgen der Lebensmittelvergiftung, zusammen mit hoher körperlicher Belastung. Unter diesen Umständen war es eigentlich normal, ja, - beinahe schon zu erwarten gewesen, dass so etwas passierte.

Ich erinnerte mich an die Strategien, die ich mir über die Jahre versucht hatte, anzutrainieren.

Lach über dich selbst. Du kennst dich doch. Und atme langsam.

Ich konzentrierte mich auf meine Atmung.

Denn Gott hat uns NICHT einen Geist der Angst gegeben… Sondern der KRAFT, der LIEBE und der SELBSTBEHERRSCHUNG.

 

Nach und nach wurde es wieder besser, ich trank etwas, aß ein paar Dextro-Energys und setzte mich dann langsam auf, um erleichtert zu bemerken, dass die Welt sich nun bereits ein wenig langsamer drehte. Anschließend fuhr ich mit Anke nach Hause, da meine Eltern gerade verreist waren und ich ungern mit meinen Gedanken allein sein wollte. Bevor ich mich verabschiedete, um ins Bett zu gehen, sah sie mich noch einmal voller Verständnis und Mitgefühl an. „Ich glaube, ich weiß ziemlich genau, wie du dich fühlst. Ich hatte früher auch ständig mit Ängsten zu kämpfen. Hätte nie gedacht, dass sich das mal ändert. Aber eines Morgens, nachdem jemand für mich gebetet hatte, wachte ich auf und war frei. Ich hätte nie gedacht, dass man so leben kann.“ 

 

Es war als Ermutigung gemeint und ich freute mich, dass es für sie so ausgegangen war, 

Doch wenn ich ehrlich war, dann hatte ich die Hoffnung, irgendwann einmal völlig ohne Angst leben zu können, bereits aufgegeben.

Sie war Teil von mir seit ich klein war und begleitete mich, solange ich denken konnte. Als kleines Mädchen hatte ich vor allem Angst. Mit einer lebhaften Fantasie ausgestattet, malte ich mir alle möglichen Katastrophenszenarien aus: Meine Eltern zu verlieren, von einem Fremden entführt zu werden, während der Autofahrt in einen tödlichen Unfall verwickelt zu werden oder in einem Wohnungsbrand ums Leben zu kommen. Die Bücher, in denen ich im Grundschulalter etwas über den menschlichen Körper – und dessen mögliche Erkrankungen -, über Vulkanausbrüche und Kriege und Erdbeben und Wirbelstürme las, nahm ich regelmäßig mit in meine Alpträume.

 

Ich kann mich noch gut an einen Augenblick erinnern, indem ich mit etwa 7 Jahren an meinem Zimmerfenster stand und sah, wie aus dem Wald dunkle Rauchwolken emporstiegen. Völlig panisch rannte ich zu meinen Eltern aus Sorge, der komplette Harz könne in Flammen aufgehen, die mir beschwichtigend klarzumachen versuchten, dass es sich nicht um einen Waldbrand, sondern lediglich die Harzer Schmalspurbahn handelte, die dort für den Qualm sorgte. Was ich ihnen zunächst erst einmal gar nicht glauben wollte. Das Problem mit der Angst ist nämlich, dass sie zutiefst emotional, unwillkürlich und alles andere als rational ist. Eigentlich handelt es sich dabei ja sogar um etwas Gutes, das uns in Extremsituationen vor Gefahren beschützen soll. Doch manchmal kann es passieren, dass Angstgedanken Überhand nehmen, in eine ungesunde Richtung abdriften und irgendwann nicht mehr die gefährliche Situation die Angst erzeugt, sondern andersherum die Angst die gefährliche Situation. Und wenn man bereits in jungen Jahren nicht lernt, richtig damit umzugehen, - so wie in meinem Fall, -  dann verselbstständigen sich solche Gedankenmuster irgendwann und es wird immer schwerer, aus diesen Reflexen auszubrechen. Auch auf einer körperlichen Ebene. 

 

Ich Habe bis heute nicht herausgefunden, was die ursache für die vielen Sorgen war, die ich mir machte.

Eine traumatische Erfahrung in frühester Kindheit, die gar nicht als solche erkannt wurde? Meine 30-stündige, anstrengende Geburt oder vielleicht sogar meine Gene, in denen sich die Erfahrungen meiner Großeltern als Kriegsgeneration immer noch niederschlagen und exprimieren? (Dazu später mal mehr, das ist tatsächlich mega spannend…) Doch egal, was genau der Grund war, Angst wurde zu meinem ständigen Begleiter und nahm mir rückblickend betrachtet einen großen Teil meiner Lebensqualität. Oft lag ich bereits im Grundschulalter noch spät abends mit pochendem Herzen angespannt im Bett, ohne so richtig sagen zu können, wovor ich mich eigentlich fürchtete. Und je älter ich wurde, desto definierter wurden zwar die Sorgen, desto schwieriger jedoch auch der Umgang damit: Der menschliche Körper interessierte mich schon lange, genauso wie dessen verschiedene Erkrankungen. Sensibel und hellhörig wie ich war, glaubte ich bald allerdings, alle möglichen Symptome auch an mir zu entdecken und es hört sich wirklich völlig bescheuert an, aber in meiner frühen Pubertät gab es etliche Momente, in denen ich ungelogen der festen Überzeugung war, an Krebs zu leiden und sterben zu müssen.

 

(Oh mann, ich habe echt lange damit gehadert, das hier wirklich so aufzuschreiben. Am liebsten würde ich meinem jüngeren Ich in Dauerschleife vor den Kopf schlagen, - sofern das in irgendeiner Art und Weise einen anderen Effekt außer (zur Ausnahme einmal begründeten) Kopfschmerzen gehabt hätte…

Und wie kommt es eigentlich, dass diese Artikel immer so persönlich werden? I’m sorry. Aber so versteht ihr vielleicht, warum meine Heilung wirklich ein Wunder und nicht nur eine „glückliche Fügung“ oder so etwas in der Art war.)

 

Mein Vater fragte mich einmal völlig mit den Nerven am Ende, wie hoch denn bitte die Wahrscheinlichkeit sei, dass ich an einer tödlichen Krankheit litt? Als Psychologe und damit waschechter Statistiker tat er das oft: Er sprach ganz ruhig und appellierte mit logischen Argumenten an meinen rationalen Menschenverstand. Doch selbst wenn ich oft im tiefsten Inneren wusste, wie unwahrscheinlich so etwas war, blieb doch immer noch die winzige Restmöglichkeit bestehen, - und dieses „Aber was, wenn doch?“ war es, vor dem ich mich so fürchtete.

„Wie wahrscheinlich ist es denn bitte,“, antwortete ich also prompt, „dass ich bei all den vielen Krankheiten, die es gibt, keine davon habe?“

 

 

So viel zu Logik und Menschenverstand. Haha, Ciao.  

 

Man könnte sich nun fragen, wie jemand, der Christ ist und glaubt, dass der Tod oder zumindest das, was danach kommt, per se nichts Schlechtes ist, trotzdem solche Angst davor haben kann, zu sterben. Nun, vermutlich liebte ich das Leben. Oder vor allem die Menschen darin, von denen ich nicht getrennt werden wollte. Vielleicht existierte der Himmel und eine Ewigkeit bei Gott zwar in meinem Verstand, aber nicht als feste Gewissheit in meinem Herzen. (Und ganz ehrlich: Wie auch? Ich kann mir vorstellen, dass es vielen so geht, denn die wenigsten hatten bisher eine Nahtoderfahrung. Und wir Menschen fürchten nun einmal alles, was wir nicht kennen und was unsere Vorstellungskraft übersteigt.)

 

Jesus sagt dazu: „Wer sein Leben mit aller Kraft bewahren möchte, der wird es verlieren, aber wer sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es gewinnen.“ Anstatt mich zu ermutigen, machte dieser Vers mir regelmäßig nur noch mehr Angst. Und dann war da natürlich noch die Sache mit der Kontrolle: So vieles hatte ich nicht unter Kontrolle und es fiel mir furchtbar schwer, diese Dinge abzugeben. Denn wer garantierte mir denn, dass der Plan, den Gott für mich hatte, sie nicht trotzdem beinhaltete? Und ja, vielleicht war sein Plan der Beste für mich, aber das änderte nichts daran, dass ich mich vor solchen Herausforderungen fürchtete. Natürlich war mir bewusst, dass es überhaupt nichts brachte, Angst zu haben. Ich konnte damit nichts, aber auch gar nichts an einer bestimmten Situation ändern. „Sorgt euch nicht um Morgen, denn der Tag morgen wird für sich selbst sorgen.“ heißt es nicht ohne Grund in der Bibel, oder: „Seid um nichts besorgt, denn er (Gott) sorgt für euch.“ Da ich Gefühle allerdings nicht einfach so mit einem Fingerschnipsen abschaffen und wegdrücken konnte, hatte ich lange Zeit sogar Angst davor, Angst zu haben; hasste ich doch meine körperliche Reaktion und die hilflose Wut darauf, dass die Furcht vor der unbeeinflussbaren Zukunft mir die Gegenwart zerstörte.

 

Mit der Zeit lernte ich, die Sorgen und Ängste zu akzeptieren und ihnen, wenn sie kamen, Bibelverse entgegenzuschmettern. Wenn Menschen lange nach der vereinbarten Zeit nicht nach Hause kamen und ich mich fragte, ob ihnen vielleicht etwas zugestoßen war, betete ich und legte es Jesus in die Hände. Anfangs war das eine rein formale Angelegenheit, es änderte nichts daran, dass ich ständig darüber nachdenken musste und mich weiterhin ängstlich fühlte, doch ich tat es einfach immer und immer wieder. Auf der geistlichen Ebene hatte das immerhin den positiven Effekt, dass ich viel für die betreffenden Personen betete. Die Ängste verschwanden nicht, aber immerhin beherrschten sie mich nicht mehr völlig. Ich lernte immer besser, damit umzugehen, doch es kostete mich oft ein großes Maß an Kraft und Energie. Und manchmal, - wie in der Situation, die ich euch am Anfang geschildert habe, - waren die Sorgen doch wieder schneller als mein Verstand und rissen mich im wahrsten Sinne des Wortes von den Füßen, bevor ich reagieren konnte.

 

Nun ja. , dachte ich manchmal. Dann ist das eben der Stachel in meinem Fleisch, den Paulus beschreibt. Ich werde wohl damit leben müssen. Und gerade im Rückblick, - oft aber auch schon währenddessen, - schaffte ich es sogar, dafür dankbar zu sein. Die Sorgen trieben mich nämlich immer wieder zurück ins Gebet und in Gottes Arme. Sie hielten mich auf dem Boden der Tatsachen und sorgten dafür, dass ich nie auf den Gedanken kam, ihn nicht zu brauchen. Dennoch hat Gott für uns nicht ein Leben in Angst geplant: „In der Welt habt ihr Angst.“, sagt Jesus, „Doch ich habe die Welt überwunden.“ Wie oft werden wir dazu aufgefordert, ihm alle Lasten hinzulegen und wie oft verspricht er uns im Tausch dafür seinen Frieden an, der unser gesamtes Denken weit übersteigt?

 

 

Aber Gott… , betete ich oft, Wo ist dein Friede? 

 

Vor allem während meiner Essstörung hatte ich oft mit Schwindelattacken zu kämpfen.

Das Gefühl, keine Kontrolle mehr über den eigenen Körper oder darüber zu haben, wann so etwas passierte, machte mir sehr zu schaffen. Während dieser Zeit waren viele meiner Ängste gar nicht so unbegründet, doch zum ersten Mal konnte ich konstruktiv etwas gegen die Dinge tun, vor denen ich mich fürchtete. Vielleicht war es auch meine Angst vor dem Tod, die dafür sorgte, dass ich begann, mit aller Kraft zu kämpfen.

 

Wer den Vorstellungstext meines Blogs gelesen hat, weiß, dass ich mich auch gerade weil ich einen riesigen Respekt davor hatte, in ein anderes, sehr viel unsicheres Land zu gehen, dafür entschieden habe, genau dies während meines Freiwilligendienstes zu tun. Ich wusste: Ich kann entweder der Angst gehorchen und aus der Furcht davor, das Leben zu verlieren, am Ende überhaupt nicht leben, oder ich kann trotzdem mutig losgehen und mich ihr mit Gott an meiner Seite entgegenstellen. Konfrontation, lautete die Devise.

 

 

Allein der Langstreckenflug nach Lima bedeutete für mich eine riesige Herausforderung. Zwölfeinhalb Stunden auf engem Raum, tausende Meter in der Luft, wenig Sauerstoff („Denkt daran, genug zu trinken und ab und an aufzustehen, um nachher nicht an einer Lungenembolie zu sterben.“) Turbulenzen und natürlich überhaupt keine Kontrolle darüber, ob wir sicher ans Ziel kommen würden, oder nicht. Doch ich hielt tapfer durch. Auch der Flug von Lima nach Cusco hatte es allerdings noch einmal in sich: Zunächst einmal waren die Flugbedingungen so ungünstig, dass wir die gesamte Zeit angeschnallt bleiben mussten und darüber hinaus war es vor allem physisch nicht zu unterschätzen, von 0 Höhenmetern direkt auf eine Höhe von circa 3400 Höhenmeter zu fliegen. „Da kann man schonmal höhenkrank werden und schlimmstenfalls ein Hirnödem bekommen.“, echoten die Worte des Tropenmediziners unserer Vorbereitungsseminare durch meinen Kopf. Na vielen Dank auch für die Ermutigung.

Ich weiß noch, dass ich auf dem Hinflug Selinas Hand zerquetschte und in Gedanken Lobpreislieder Dauerschleife sang. Und gleich, als wir mit dem Taxi in den Canyon einbogen, in dem auch Curahuasi lag, sahen wir von Ferne die dichten Rauchschwaden von den Feldern aufsteigen, die die Bauern gerade abfackelten. In der Trockenzeit. Wunderbare Idee. 

 

Marion Hoffmann, die den Job des Membercare bei Diospi Suyana innehatte, nahm uns mit warmem Essen in Empfang und während wir Suppe schlürften und Brötchen aßen, lief den gegenüberliegenden Berg unkontrolliert eine lodernde Feuerwand hinab. „Ehh… gibt es hier auch so etwas wie eine Feuerwehr?“, erkundigte ich mich mit ironischem Unterton, in dem Versuch, meine Sorge als Scherz zu tarnen. Gab es wohl. Aber das mit der Zuverlässigkeit sei wohl so eine Sache.

 

 

„Ist so etwas denn normal?“ Ich konnte es immer noch nicht so ganz glauben.

„Ach das… Nee, eigentlich nicht.“

Aber sonderlich besorgt schien sie nicht zu sein, also zwang ich mich ebenfalls, tief durchzuatmen und das Feuer so gut wie möglich zu ignorieren.

 

Gerade die folgenden ersten Tage wurden nicht einfacher: Wir fanden in unserer Wohnung eine hochgiftige schwarze Witwe, sahen uns auf dem Markt mit lauter pestizid- und wurmvergiftetem Essen konfrontiert, vor dem wir ausdrücklich gewarnt wurden, machten abenteuerliche Fahrten mit den klapprigen Moto-Taxis und versuchten, uns an die Straßenhunde zu gewöhnen, die mit jeglichen menschlichen Wesen potenziell auf Kriegsfuß zu stehen schienen (wenn sie denn noch alle Füße besaßen…). Meine Patenmutter wurde gleich in meinen ersten zwei Wochen einmal gebissen. 

 

 

Weil mir gar nichts Anderes übrig blieb, begann ich, jeden Tag aktiv im Gebet in Gottes Hände zu legen.

Mir war bewusst, dass ich in diesem fremden Land auf diesem fremden Kontinent überhaupt keine Chance hatte, generell irgendetwas zu kontrollieren, wusste ich doch einfach noch nicht, wie das Leben hier funktionierte. Und Planung schien generell etwas zu sein, das die Peruaner als nicht ganz so wichtig erachteten, wie wir Deutschen. Was ich jedoch wusste, war, dass Gott mich hier haben wollte, dass ich an diesem Ort zu dieser Zeit richtig war. Und so wurde es mit jeder vergehenden Woche immer leichter, das abzugeben, was mir Angst machte. Als sei ein Schalter umgelegt worden, konnte ich plötzlich auch lange und tief und fest schlafen. Meine Schlafstörungen waren wie weggeblasen und wenn sich doch einmal Sorgen in meine Gedanken schlichen, zuckte ich bald die Schultern, legte es im Gebet Gott hin und drehte mich auf die andere Seite, um weiterzuschlafen. 

Hatte ich mir und meinem Körper anfangs kaum etwas zugetraut, lernte ich nun, an die Grenzen zu gehen, die ich mir selbst gesetzt hatte, - und darüber hinaus. Sowohl physisch als auch psychisch probierte ich immer mehr aus: Auf Extremwanderungen ohne Karte, Empfang und Zufahrtswege, auf denen man uns hätte retten können.

Teilweise sogar bei Gewitter auf dem Grat, Unwetter am Gipfel oder bei Steinschlaggefahr. Beim Surfen in Lima, vollkommen auf mich allein gestellt als Backpacker am Titicaca-See und in Cusco. Auf dem Quad und in Sammeltaxis, bei denen man sich trotz der vielen Serpentinen nicht einmal anschnallen konnte. Während des Zeltens auf 4200 Höhenmetern, allein im Sportunterricht mit zwei dutzend durcheinanderschreienden Kindern. Im OP des Krankenhauses, in dem ich entdeckte, dass mich so etwas überhaupt nicht ekelte, sondern im Gegenteil dazu sogar unheimlich faszinierte. Bei Vollmond nachts auf den Straßen voller aggressiver Hunde, bei denen man mittlerweile bereits wusste, dass man zur Not einfach laut schreien oder einen Stein heben musste. Ich könnte nun dutzende Dinge aufzählen, doch was zählt, ist nur Eines: In jedem einzelnen dieser Momente wusste ich, dass Gott bei mir war und mich trug. Ich konnte es nicht immer spüren, doch diese Erkenntnis schwebte wie ein schützender Schirm über jeder einzelnen Sekunde. Das Wissen war endlich ins Herz gerutscht. 

 

Es war Nach etwa dreieinhalb Monaten, als ich mich plötzlich, ganz nebenbei fragte, wann ich mir eigentlich das letzte Mal sorgen gemacht hatte...

...und überrascht innehielt. Denn ich wusste es nicht mehr. Hatten mich die Ängste sonst beinahe jeden Tag oder zumindest wöchentlich begleitet, fiel mir nun auf, dass ich nun schon seit Längerem so unbeschwert lebte, wie noch nie. Wenn mir jemand vorher erzählt hätte, dass es überhaupt möglich war, mit so einem Lebensgefühl in den Tag zu gehen, dann hätte ich zwar eine Sehnsucht danach verspürt, gleichzeitig aber gedacht, dass das wohl für jeden anderen galt, aber für mich nie zutreffen würde. So tief hatte die Lüge bereits in meinem Herzen gesessen, dass ich in dieser Hinsicht nie frei werden würde. Und nun… stand ich da und war geheilt. Einfach so. Ohne, dass ich es so richtig mitbekommen hatte.

 

Noch traute ich dem Frieden zugegebenermaßen nicht so ganz, doch gerade die Corona-Krise forderte mich noch einmal ganz neu dazu heraus, jeden Tag aus Gottes Kraft und im Vertrauen darauf zu leben, dass er bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt. (Römer 8,28) Er war der Fels auf den ich ganz bewusst baute, der Schirm, unter dem ich ging (Psalm 91) und der Friede, der meine Gedanken bewahrte (Philipper 4,6). In einer sehr viel unsicheren Region verstand ich endlich, dass auch die Sicherheit, die mir in der westlichen Welt suggeriert worden war, lediglich eine Lüge war, an der ich mich oft festzuhalten versucht hatte. Sie hatte mir den Blick auf das Wesentliche verstellt: Dass eine sichere Komfortzone nicht der Ort war, an dem Gott mich gebrauchen wollte. Stattdessen durfte ich nun nicht nur in der Bibel lesen, sondern auch aktiv erfahren, dass er das Fundament war, das trug.

 

Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich voller Überzeugung sagen: „Nun gut, selbst wenn ich krank werden oder sterben sollte, dann ist es eben so. Meine Zeit steht in Gottes Händen. Er wird immer, auch in Leid und Schmerz, bei mir sein und mir nie von der Seite weichen. Und selbst wenn etwas Schlimmes auf mich zukommen sollte, dann wird er selbst das noch in etwas Gutes verwandeln. Ich als Mensch habe keine Kontrolle über solche Dinge, aber das ist auch besser so, - denn Gottes Plan ist der Beste für mich. Deshalb gebe ich jeden Versuch, Kontrolle ausüben zu wollen jetzt auf und lasse Jesus wirklich Herr über mein Leben sein. Ich weiß, dass er mich über alles liebt und dieses Wissen ist genug für mich. Seinem Plan möchte ich folgen, koste es, was es wolle, denn ich glaube seinem Versprechen, dass er mir bei allen Herausforderungen den Weg zeigen wird, auf dem ich sie bestehen kann, - und dass dieser Weg GUT ist. Ich bin nicht länger ein Sklave der Angst. Sie hat keine Macht mehr über mich. Ich bin ein Kind Gottes.“  

 

Nachdem ich das hier geschrieben habe, habe ich die Worte einfach noch einmal laut vorgelesen, - und ich lade euch dazu ein, das ebenfalls zu tun. Ich bin überzeugt davon, dass sie Gewicht haben, - auch vor der unsichtbaren Welt, - und dass dieses Gebet gerade in Corona-Zeiten einfach unheimlich wichtig und wertvoll ist. Es eröffnet die Perspektive einer Ewigkeitshoffnung, ohne zu Unverantwortlichkeit und Unvernunft aufzufordern.

Es geht nicht darum, sein Leben auf’s Spiel zu setzen, dazu ist es ein viel zu kostbares Geschenk unseres Schöpfers. Es geht auch nicht darum, andere mit dem eigenen Handeln zu gefährden, Gottes Meinung dazu wird ziemlich deutlich, wenn man sich 2. Mose 21 durchliest.

Doch es schließt einen weisen Umgang mit dem unumgänglichen Thema „Tod“ mit ein: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Alles auf der Erde hat seine Zeit, „Zeit zum Gebären und Zeit zum Sterben“ (Prediger 3, 1-2) und den Zeitpunkt kennt allein Gott. Doch wenn er nicht nur allwissend und allmächtig ist, sondern uns gleichzeitig auch so sehr liebt, dass er sein eigenes Leben hingab… Wenn er nichts unversucht ließ, um dem Tod die Macht zu nehmen, damit wir in Ewigkeit bei ihm sein können… - dann können wir voller Hoffnung und Vorfreude davon ausgehen, dass er einerseits unser Leben in der Hand hat und nicht zulassen wird, dass etwas es vor der Zeit beendet und dass andererseits noch etwas viel Größeres und Schöneres als dieses Leben auf uns wartet.

 

„Denn ich bin überzeugt“, schreibt Paulus in Römer 8, 18, „dass die Leiden der jetzigen Zeit überhaupt nicht ins Gewicht fallen im Vergleich zu der Herrlichkeit, die einmal an uns offenbar werden wird.“ Er hat dieses Wissen bereits so verinnerlicht, dass er sich passagenweise wünscht, bereits jetzt in der Ewigkeit bei Gott zu sein. Den einzigen Grund dafür, noch nicht zu ihm gehen zu können, sieht er darin, dass der Auftrag, den er erhalten hat, noch nicht beendet ist.

 

In 1. Petrus 5, 10 wird es noch deutlicher: Der Gott, von dem alle Gnade kommt, hat euch berufen, mit Christus zusammen für immer in seiner Herrlichkeit zu leben. Er selbst wird euch nach dieser kurzen Leidenszeit aufbauen, stärken, kräftigen und auf festen Grund stellen.“

 

Und zu guter Letzt ist es Jesus selbst, der uns eine wunderbare Zusage macht: Und ich gebe ihnen das ewige Leben. Sie werden niemals verlorengehen. Niemand wird sie mir aus den Händen reißen. Denn mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles, was es gibt. Niemand ist in der Lage sie ihm zu entreißen. Ich und der Vater sind untrennbar eins.“

 

 

Wie ein roter Faden zieht sich Gottes Treue durch die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch. Obwohl wir Menschen immer wieder genau das Gegenteil von dem taten, was wir uns vorgenommen hatten, hat Gott bisher noch nie ein Versprechen gebrochen oder eine Zusage nicht eingehalten. Unter anderem deshalb spielt die Symbolik im Judentum eine so große Rolle: Alle Gegenstände im Tempel stehen für die Beziehung zwischen Mensch und Gott und sind bewusst seit Jahrtausenden Teil der Erinnerungskultur, um auch die nachfolgenden Generationen an das zu erinnern, was Gott bereits für sein Volk getan hat – und immer noch tut. Der Zuspruch, der einst an Josua gerichtet war, gilt auch für uns:

 

„Ich habe es dir gesagt: Sei stark und sei mutig! Lass dir keine Angst einjagen, lass dich nicht einschüchtern, denn Jahwe, dein Gott, steht dir bei, wo du auch bist.“ 

 

Bei mir war es auf dem insgesamt über 18einhalb-stündigen Langstreckenflug zurück nach Deutschland, auf dem ich registrierte, dass mir das Fliegen überhaupt keine Angst mehr machte. Dass ich einfach tief und fest wusste, dass Gott uns alle beschützte und dass ich kleiner, unerfahrener Mensch nun wirklich der letzte war, der die Kontrolle im Cockpit übernehmen sollte. In Deutschland bemerkte ich dann, dass die Heilung nicht nur vorübergehend oder irgendwie an das Land Peru mit all seinen Ablenkungen gebunden gewesen war: Natürlich gab es weiterhin Momente, in denen ich mir ab und an einmal Sorgen machte, jedoch auf einem normalen Level. Im Gegensatz zu früher konnte ich solche Gedanken nun einordnen und mich bewusst dagegen entscheiden, ihnen die Macht über mich zu geben. Stattdessen übergab ich sie Gott und erlebte, dass sie – anders als gewohnt – nicht ständig wieder hochkamen, sondern dann auch wirklich bei ihm blieben und nicht mehr meinen gesamten Lebensalltag bestimmten.

 

Es gab weiterhin Aktionen außerhalb meiner Komfortzone: Das Fliegen in einer Sportmaschine gehörte dazu, außerdem das Arbeiten mit giftigen Chemikalien (ihr wisst, wie tollpatschig ich bin…) oder eine relativ spontan organisierte Fahrradtour durch Deutschland. Aber all diesen Herausforderungen stellte ich mich nun ganz bewusst, um in jedem dieser Bereiche zu wachsen und mutiger zu werden. Erst vor kurzem nahm mich ein Freund zum ersten Mal auf seinem Motorrad mit und während wir bei glutrotem Sonnenuntergangs-Himmel über die Felder rasten, ich den Wind in meinen Haaren spürte und die Beschleunigung in meinem gesamten Körper, da hätte ich vor Freude beinahe geweint. Nicht nur, weil es so ein unheimlich schönes Gefühl war, sondern weil ich die Fahrt so sehr genießen konnte und genau wusste, dass ich das früher nie getan hätte. Ich vertraute einfach meinem Fahrer und Gott, verlagerte ganz automatisch das Gewicht in jeder Kurve und lebte ganz bewusst in dem Wissen, wie kostbar und gleichzeitig zerbrechlich dieses Leben war.

 

 

Ich hatte niemals geglaubt, von der Angst geheilt werden zu können.

Sie ist so eine unheimlich starke, unwillkürliche, unzähmbare, wilde Emotion, die in jeder Konfrontation mit dem Verstand mit aller Kraft um ihre Berechtigung kämpft. Doch sie ist nicht stärker als Gott und sein Geist, den er uns schenkt, wenn wir ihn darum bitten. Das habe ich getan. Und ja, es geschah nicht von heute auf morgen, es war ein langer Prozess, doch letzten Endes bewies mir der Gott, dem ich bewusst mein Leben anvertraut hatte, wieder einmal aufs Neue, dass er hält, was er verspricht und immer noch Wunder tut.

Er hat sein Volk nie verlassen und zu diesem Volk dürfen nun auch wir gehören. „Wer ihm vertraut, wird nicht enttäuscht werden“ (Römer 10, 11), denn „auf sein Wort ist Verlass und in all seinem Tun ist er treu.“ (Psalm 33,4) „Darum vertrauen dir die, die deinen Namen kennen. Du lässt die nicht im Stich, die dich suchen, Jahwe.“ (Psalm 9,11)

 

Wie würden wir leben, wenn wir das wirklich glauben würden?

 

Welche Entscheidungen würden wir treffen, welche Prioritäten anders setzen?

 

Wo könnten wir Hoffnung spenden und ermutigen?

 

Wo würden wir ein Zeichen setzen, in einer Welt, die vergessen hat, dass Gesundheit und Glück zwar wichtig, aber niemals alles sind?

 

Was würde geschehen, wenn wir nicht nur irgendwo in der hintersten Ecke unseres Verstandes wüssten, was wir sind, sondern das auch leben würden?

 

Wenn wir als geliebte Kinder eines allmächtigen, gütigen Gottes hoffnungsfroh bereits heute Tag für Tag den Anfang der Ewigkeit mitgestalten würden, der uns zur Verfügung steht?

 

Wenn wir Gottes Geschenk der Vergebung annehmen, dann hat der Tod keine Macht mehr über uns.

 

Und wenn wir uns dazu entscheiden, in dieser Ewigkeitsperspektive voranzugehen, dann verändert das alles: Nicht nur uns selbst, sondern vor allem auch die Welt um uns herum. Zum Positiven.

 

"Jetzt ist Gottes Wohnung bei den Menschen.

Unter ihnen wird er wohnen und sie alle werden seine Völker sein.

 Gott selbst wird als ihr Gott bei ihnen sein. 4 Jede Träne wird er von ihren Augen wischen.

Es wird keinen Tod mehr geben und auch keine Traurigkeit, keine Klage, keinen Schmerz. Was früher war, ist für immer vorbei."

5 "Seht, ich mache alles ganz neu!", sagte der, der auf dem Thron saß, und wandte sich dann zu mir: "Schreib diese Worte auf! Sie sind zuverlässig und wahr."

6 Und er fuhr fort: "Nun ist alles erfüllt. Ich bin das Alpha und das Omega, der Ursprung und das Ziel. Wer Durst hat, dem werde ich umsonst zu trinken geben: Wasser aus der Quelle des Lebens.

7 Wer den Kampf besteht, wird das alles erben. Ich werde sein Gott und er wird mein Sohn sein.“

 

[Offenbarung 21, 3-7]