Sport - with the Lord?

Als ich begann, in meiner Freizeit mehr Sport zu machen, war es zu Anfang vor allem ein Ausgleich: Hatte ich sonst Klavier gespielt, geschrieben, oder einfach ein Buch gelesen, verlangte mein Körper mit zunehmendem Stress in der Schule einfach nach Bewegung. Vor allem mein Rücken hatte unter dem vielen Sitzen gelitten und ich hatte oft mit Spannungskopfschmerzen zu tun gehabt. Wenn es mir schlecht ging, half mir ein Lauf in der Sonne, wieder auf andere Gedanken zu kommen und das Adrenalin in meinen Adern, mich nachher wieder energiegeladener und konzentrierter zu fühlen. Bedingt durch meinen zierlichen Körperbau war ich schon immer gut in den Ausdauersportarten gewesen, für welche ich jetzt nach und nach eine immer größere Leidenschaft entwickelte: Dazu gehörte Fahrradfahren und Laufen im Harz, regelmäßiges Schwimmen mit meiner Mutter oder auch einfach eine ausgedehnte Wanderung. Die Strecken wurden länger, die Zeiten besser, aber ich war noch nie der Wettbewerbstyp gewesen und nahm lediglich am Harzgebirgslauf teil, ohne eine bestimmte Zeit anzuvisieren. Ein Volkstriathlon steht noch auf dem Programm, doch in der gegenwärtigen Situation weiß ich nicht, wann es dazu kommen wird. 

 

Es gab Zeiten, in denen ich aufpassen musste, das mir der Sport nicht zu wichtig wird: Dass ich mich nicht nur noch dann gut fühle, wenn ich erfolgreich ein Work-Out absolviert habe und dass es nicht zu dem wird, worüber ich mich definiere und woraus ich mein Selbstwertgefühl ziehe. 

Denn mein Wert hängt nicht davon ab, was ich leiste, sondern von dem, was Gott über mich denkt. Und seine Liebe steht fest, unabhängig davon, wie viel ich laufe, schwimme oder wie lange ich eine Plank halten kann. 

Ich bin ein Mensch, der dazu neigt, an seine Grenzen zu gehen. Ich liebe Herausforderungen und ich liebe es vor allem, wenn ich sie meistere. Dazu kommt des weiteren ein hoher Anspruch an mich selbst und an meine Leistungen.

Doch in der Bibel steht auch: Christus hat uns befreit, damit wir als Befreite leben. Bleibt also standhaft und lasst euch nicht wieder in ein Sklavenjoch spannen! (Galater 5,1) 

Das ist es, worauf es mir ankommt. Wenn die Prioritäten richtig sortiert sind, wenn mein Wert in Jesus feststeht und ich den Sport nicht brauche, dann kann ich ihn genießen, ohne in ein Abhängigkeitsverhältnis zu rutschen. 

 

Das ist es, was ich gerade lerne. Gerade in letzter Zeit habe ich viele neue Sportarten ausprobiert, nicht, weil ich das Gefühl hatte, zu müssen, sondern einfach, weil es mir Spaß machte. Dabei habe ich viel Neues entdeckt und gelernt: Von Windsurfen, Paddeln und Wasserski über Freeletics, Volleyball, Floorball, Basketball, Spike-Ball, Ultimate Frisbee, Badminton, bis hin zu Fußball und Bouldern war in den letzten Jahren alles dabei. Von meinen Erfahrungen werde ich hier auf diesen Seiten des Blogs berichten und ich freue mich über euer sportliches Interesse. 

Zu den "normalen" Experimenten kamen nämlich auch wirklich verrückte und herausfordernde Aktionen dazu: Zwei Fahrradtouren quer durch Deutschland, eine Alpenhüttenwanderung in den Zillertaler Alpen, eine zwölftägige Wanderung in Schweden mit Zelten, Wasserwandern in Skandinavien, leicht verlängerte Arbeitswege mit einem Fahrrad-Abstecher auf den Brocken und natürlich die bisher anstrengendsten Wanderungen meines Lebens in Peru auf die 4000er Gipfel in den Anden. Was das betrifft, wünsche ich euch bereits jetzt viel Spaß beim Lesen! 

 

Und das Wichtigste: Ich tue diese Dinge mit Gott zusammen. Wie das funktioniert? 

Nun, zuerst einmal hat er mir diesen Körper geschenkt. Jedes Mal, wenn ich draußen unterwegs bin, versuche ich, Gott damit zu loben, das ich ihn gebrauche. Ich bewundere seine Schöpfung, wenn ich wandere oder Fahrradfahre, ich höre Songs mit christlicher Botschaft bei den Freeletics-Workouts mit Freunden, ich lade mir Predigt-Podcasts herunter, wenn ich jogge und ich bete für Freunde oder andere Bekannte, wenn ich schwimme. 

Natürlich nicht immer, ich sehe das nicht als Zwang, denn wichtiger als erzwungene, irgendwie dazwischengepresste Zeit aus einem Schuldgefühl heraus, ist Gott eine ehrliche Beziehung mit Sehnsucht nach wahrer Nähe. Aber ich schließe ihn aus diesem Hobby nicht aus, denn es ist auf jeden Fall etwas, das zunächst einmal keinen Ewigkeitsbestand hat: Mein Körper wird altern und ermüden. Auch die Länge meines Lebens ist in Gottes Hand. Alles, was ich tun kann, ist nur deshalb möglich, weil er es mir ermöglicht, weil er Leben und Kraft in mich hineingehaucht hat und weil es sein Geist ist, der mein Herz lebendig macht. Was könnte ich da besseres tun, als mit ihm gemeinsam dieses Leben zu feiern? 

Mich nach seinem Maß von Besonnenheit, Regeneration und eben auch Aktivität auszustrecken und davon leiten zu lassen?

Und den Sport letzten Endes vielleicht sogar dazu zu nutzen, anderen Menschen zu dienen oder einfach eine Freude zu machen? 

Diesbezüglich bin ich momentan noch auf Ideensuche. Aber auch da habe ich schon einige Anregungen. Ich halte euch... (Achtung, Dad-joke!)

auf dem Laufenden! 

 

Von Stuttgart an die Nordsee

Und das mit zwei Schwaben...

Die Fahrradtour durch Deutschland war eine der coolsten und verrücktesten Unternehmungen, die ich je gemacht habe. Gerade in der Corona-Zeit tat es aber unheimlich gut, auch Deutschland wieder aufs Neue lieben und schätzen zu lernen, tolle bis dahin völlig unbekannte Orte kennenzulernen und natürlich Menschen zu besuchen, die einem am Herzen liegen.

Generell war es unfassbar erholsam, einfach einmal seinen Kopf ausschalten zu können und tagelang an nichts Anderes denken zu müssen als die nächste Mahlzeit, die nächste Etappe oder schlichtweg daran, wie schön die Landschaft war, durch die man in diesem Moment hindurchfuhr.

Gemeinsam mit Julian und Louis unterwegs zu sein, war unheimlich unkompliziert und entspannend und ich vermisse unser Dreier-Team jetzt schon. Während ich das hier aufschreibe, befinde ich mich gerade auf dem Weg nach Einöd, wo wir vor unserem Reentry-Seminar die nächsten Tage gemeinsam verbringen werden. Lange muss ich es jetzt also nicht mehr ohne diese beiden Chaoten aushalten, aber die letzten Wochen waren auch so schon lang genug.

Aber von Anfang an...

 

Mein „Urlaub“, - oder wie auch immer man das nennen mag, - begann nach einer glücklicherweise sehr langen Nacht entspannt um 11:24, als mich der erste Zug nach Leipzig brachte. Beim Buchen waren mir ein paar wiiinzige Fehler unterlaufen, sodass ich nun zwei Stunden Aufenthalt in der Stadt hatte, in der die meisten meiner Freunde studieren würden und in die ich von Anfang an auf keinen Fall gewollt hatte. Das lag jedoch keineswegs am Stadtbild oder so, im Gegenteil: Ich genoss es, in der Sonne mit meinem Fahrrad durch die Parks zu fahren, an den alten Kirchen und Häuserfassaden vorbei und natürlich über den riesigen Marktplatz, für den Leipzig so bekannt und beliebt ist. Etwa eine halbe Stunde lang döste ich im Sonnenschein auf einer Wiese, - eine Erholung, die ich auf der weiteren Zugfahrt durchaus gebrauchen konnte, wie sich herausstellen sollte. Meine Fahrradtaschen waren wirklich schwer und ich musste während meiner Fahrt unheimlich oft umsteigen, - teilweise unter Zeitdruck an Bahnhöfen, die keinen Fahrstuhl besaßen. Am Ende des Tages war ich völlig erschöpft von dem ständigen Hin- und Her und meine Arme brannten gehörig vom vielen Taschentragen. Erst um halb zehn erreichte ich den Bahnhof von Backnang, von wo aus mich glücklicherweise Familie Ade plus Louis mit dem Auto abholte.

Bei ihnen zuhause wurde ich aufs Herzlichste von seiner Schwester und seiner Mutter begrüßt, die ein grandioses Abendessen gekocht hatte und mich mit den Worten „Ich habe mich so darauf gefreut, dich kennenzulernen!“, in Empfang nahm. Generell hatte sie wohl schon „viel von mir gehört“ und gesehen, dass ich „sooo schöne Bilder auf Instagram“ hatte und bestimmt zu denjenigen unserer Gruppe gehört hatte, die die Gruppe „stark geprägt“ hatten, richtig?

 

Von so viel Lobhudelei war ich um 23 Uhr abends ein wenig überfordert, aber glücklicherweise musste ich nicht mehr viel sagen und durfte nach Lachs und extra schwäbischem Kartoffelsalat in ein bereits liebevoll bezogenes Bett fallen. 

DAY 1

Etappe: Einöd – Ladenburg (101 km)

 

Ich werde um 7 Uhr von meinem Wecker und dem durch das Fenster hereinfallende Sonnenlicht geweckt. Es verspricht, ein schöner und warmer Tag zu werden. So warm, dass wir eigentlich recht früh losfahren sollten, doch das scheint angesichts des Festmahls, das Gabi für uns angerichtet hat, unmöglich. Noch während ich am Frühstückstisch sitze, bin ich hin- und hergerissen zwischen „strategischem Energiespeicher-Füllen“ (aber auch nur so voll, wie nötig) und gnadenlosem Überfressen. Man weiß überhaupt nicht, was man zuerst und zuletzt essen soll. Oder dazwischen.

 

Ich frage mich, auf was ich mich da eigentlich eingelassen habe.

Ich frage mich außerdem, ob Gabi vielleicht denkt, dass wir verhungern werden, so viel Essen, wie sie uns mitgibt. Und wie dieses Essen bitteschön in meine ohnehin schon völlig überfüllten Fahrradtaschen passen soll.

Vor allem aber frage ich mich, was bitte ein „Wecken“ ist und warum die Jungs sich so köstlich über den Begriff „Brotbüchse“ amüsieren. Und, ob ich nach dieser Reise noch in der Lage sein werde, richtig Hochdeutsch zu sprechen. Zumindest, was diesen Punkt angeht, bin ich eher pessimistisch… 

 

Bereits auf den ersten Kilometern zeigt sich, dass die zusätzlichen Kilos auf meinem Gepäckträger deutlich spürbar sind: Vor allem bergauf muss man mehr trampeln und bergauf geht es zu Beginn unserer ersten Etappe recht viel. Dafür lohnt sich die Aussicht: Wir fahren durch Weinberge hindurch, später durch reife Felder und angenehm schattige Waldstücke. Sobald wir eine Pause machen, merken wir, wie heiß es eigentlich ist, doch auf dem Fahrrad und mit dem Fahrtwind im Gesicht ist es angenehm. Es trägt dazu bei, dass wir die Pausen recht kurz halten und zügig vorankommen.

 

Manchmal (Julian würde behaupten, in gaaanz seltenen Fällen) passiert es, dass er sich nicht ganz sicher ist, welchen Weg die App „Komoot“ nun eigentlich meint und nach einigen Metern hektisch mit den Armen wedelt, um uns zum Umkehren zu bewegen. Louis und ich wechseln dann immer einen belustigt genervten Blick und bringen unseren Unmut mit einem beherzten „Eieiei“ zum Ausdruck. Irgendwie wird dieses „Eieiei“ zum Running Gag und da uns Julz tatsächlich etwas öfter als nur in „gaaaanz seltenen Fällen“ falsch führt, bürgert sich der Witz schneller ein, als unserem Fahrlehrer möglicherweise recht ist. Das ist übrigens ein weiteres Zitat, das uns den Rest des Weges begleiten soll: „Wenn der Fahrlehrer nichts sagt, geradeaus.“ Haha. Lachen dürft ihr später.

 

Heilbronn und Hoffenheim begeistern mich nicht so sehr, dafür fahren wir anschließend am Neckar entlang und erreichen über Heidelberg schließlich gegen 16:30 Uhr über ein paar Umwege das bezaubernde Dörfchen Ladenburg. Dort werden wir in der Babogasse 1 (musste es auch noch die Hausnummer 1 sein, ganz ehrlich?) von Chrissi und Joni begrüßt, die uns herzlich in ihrer gemütlichen Wohnung aufnehmen. Wir bekommen Kaffee, füllen die Energiereserven mit Nüssen und Snacks auf und setzen uns dann an das Klavier, um ein bisschen Musik zu machen.

Achja, und geduscht haben wir natürlich. Selbstversicherlich. Sofort nach unserer Ankunft…

 

Zum Abendessen kommt noch Benni, - ein Freund von mir, der in Mannheim wohnt, - zu Besuch und wir „veschpern“, lachen viel und unterhalten uns über Gott und die Welt, - im wahrsten Sinne des Wortes. Anschließend unternehmen wir einen kleinen Spaziergang durch das Dorf. Es ist noch angenehm mild und die Dämmerung scheint sich ewig hinzuziehen. Das Adrenalin der sportlichen Tour rauscht durch meine Adern und verursacht, dass ich mich ganz leicht und frei fühle. Trotz Corona. Mit Corona. Wegen Corona.

Das alles trifft den Kern der Sache ziemlich gut.

Als Kehrseite der Medaille bin ich dafür in der Nacht so aufgedreht, dass ich kaum schlafen kann.

Auch wenn ich das natürlich nie zugeben darf, da ich meine aufblasbare Isomatte mit den platz- und materialsparenden Löchern ja vorher in den höchsten Tönen angepriesen und gelobt habe. (Upps.)

Nur Benni kennt mein Geheimnis, da ich ihm um 4 Uhr nachts noch auf eine Nachricht geantwortet habe. Um die Uhrzeit ungefähr, als ich beschloss, dass es bei dieser lauten Kirchturmuhr einfach schlichtweg unmöglich war, wieder einzuschlafen. Aber manchmal muss man eben Prioritäten setzen: Wegen der Hitze zugrunde gehen, oder schlafen. 

DAY 2

Etappe: Ladenburg – Mainz  (106 km)

 

Am nächsten Morgen habe ich Magenkrämpfe, allerdings auf einem gerade noch erträglichen Level.

Julian hat tonnenweise frische Brötchen besorgt, was mich zu dem Schluss kommen lässt, dass die Sorge ums Verhungern in irgendeiner Form vererbbar zu sein scheint. Nach dem Frühstück geht es dann los; direkt nach Mannheim, und damit der ersten Stadt auf unserer heutigen Etappe.

Bereits jetzt scheint sich das Vorurteil von den „immer sparenden Schwaben“ zu bewahrheiten: Die Powerbank wird mangels funktionierender Alternativen einfach mit Panzertape am Navigations-Handy befestigt und Louis‘ wasserfeste Handyhülle besteht gerade einmal aus einer ebenfalls festgeklebten Klarsichthülle.

Was allerdings Mannheim angeht, finde ich die Stadt im Gegensatz zu der allgemein gültigen Meinung gar nicht so hässlich. Das liegt einerseits mit hoher Wahrscheinlichkeit daran, dass Benni ständig darauf beharrt und zweitens am Ufer des Neckars, an welchem wir lange Zeit entlangfahren. Dort ist es natürlich sehr grün und wirkt so gar nicht großstädtisch. Lediglich der Fernsehturm in der Ferne straft den idyllischen Eindruck Lügen. Positiv in Erinnerung bleiben des weiteren jedoch gut ausgebaute Fahrradwege, die uns das „floaten auf der grünen Welle“ ermöglichten und das lebendige Geruchs-, Geräusch- und Farbchaos von den Quadraten und „Little Istanbul“.

Nach einiger Zeit lassen wir das hektische Verkehrschaos hinter uns. Straßenlärm weicht Vogelgezwitscher auf dem Feld und abgesehen von einem versehentlichen Beinahe-Abstecher auf die Autobahn (Julez hatte da wohl irgendetwas auf seinem Handy falsch gedeutet, Louis und ich konnten ihn gerade noch rechtzeitig von der Autobahnauffahrt zurückrufen…) kommen wir gut voran. Um die Mittagszeit herum halten wir in Worms, wo wir uns auf die Spuren von Martin Luther begeben. Mir gefällt die Stadt sehr. Ich stehe mitten im geschäftigen Treiben der Altstadt und kann gar nicht anders (hähä, Wortspiel), als den Dom zu bewundern oder mich zu fragen, wie das alles wohl vor 500 Jahren zu Luthers Zeiten ausgesehen haben muss.

Weiter geht es in Richtung Mainz. Hier begegnen wir zum ersten Mal dem Rhein und obwohl auch hier die Natur wieder vollkommen anders wirkt als zuvor, ziehen sich die letzten Kilometer sehr in die Länge. Einmal verpassen wir eine Fähre, weil sie entgegen aller peruanisch antrainierten Gewohnheit nicht eine halbe Stunde später, sondern fünf Minuten früher abfährt. Ein anderes Mal setzen wir uns während einer Pause ins Feld und schaffen es kaum, uns dazu zu motivieren, wieder aufzustehen. Die geistige Erschöpfung kommt des weiteren in unser wenig niveauvollen Konversation zum Ausdruck. Was immer wir erzählt haben: Es war so belanglos, dass ich zwar noch weiß, dass wir es in diesem Moment unfassbar witzig fanden, mich jetzt jedoch nicht mehr daran erinnern kann. Das sind ohnehin die besten Gespräche… ^^

In der Stadt selbst angekommen geht es dann noch einmal stark bergauf, bis wir die Randgebiete erreichen, in denen sich auch unser Appartement befindet. Zu unserem gegenseitigen Entsetzen kommen wir zu früh: Wir stehen zunächst einmal vor verschlossenen Türen und erfahren von der überraschten Dame am Telefon, dass wir uns noch ein bisschen gedulden müssen, bis jemand vorbeikommen und uns den Schlüssel aushändigen kann. Die Zeit nutzen Louis und ich für ein kleines Work-Out (man will natürlich nicht nur die Beinmuskulatur stärken), während Julian teilnahmslos und erschöpft in der Gegend herumliegt. Bei den Sit-Ups ist er kurz dabei (Bauchmuskulatur scheint bei ihm recht hoch auf der Prioritätenliste zu stehen), dann verfällt er wieder in den Status des kraftsparenden Dahinvegetierens zurück.

Nach einer Dreiviertelstunde kommt wie versprochen die Besitzerin des Appartements zurück. Ein bisschen schuldbewusst lässt sie uns herein und erklärt, dass wir nach aufwendigen Renovierungsarbeiten die ersten Gäste seien. Da das Bett für die Nacht dadurch in sehr viel greifbarere Nähe gerückt ist, bedanken wir uns artig und tragen widerspruchslos unsere Fahrräder in den Keller, als wir erfahren, dass es hier ansonsten keine Möglichkeit gibt, sie einigermaßen sicher zu verstauen. Wir haben uns mit Nele verabredet, die in Mainz studiert und die letzten Wochen in Peru unser Quarantäne-Schicksal geteilt hat. Sie war Missionarskind und schließlich ein Jahr vor uns Volontärin bei Diospi. Deshalb kann sie nicht nur unsere Sehnsucht nach den Anden, sondern auch die Erlebnisse der Rückholaktion sehr gut nachvollziehen. Gleichzeitig ist sie wie wir leidenschaftliche Liebhaberin von gutem Essen und leckeren Cocktails, weshalb wir uns nach einer guten Stunde Verzögerung (hora peruana, meine Lieben, hora peruana) schließlich auf dem Marktplatz treffen und anschließend dem Cafe Extrablatt einen Besuch abstatten.

Julian ist so hungrig und erschöpft, dass er auf seinem Platz fast einzuschlafen scheint, während ich trotz der beinahe schlaflosen Nacht kribbelig vor Aufregung und Energie bin. Mit seinen Teil dazu beigetragen hat sicherlich auch meine Begegnung mit der Dusche. Nach einer Nahtoderfahrung durch Beinahe-Erstickung verlegte ich mich luftschnappend darauf, immer nur so kurz wie möglich unter den eiskalten Wasserstrahl zu hüpfen, der sich trotz höchster einstellbarer Temperaturstufe beharrlich dagegen sträubte, endlich warm zu werden. Als ich fast fertig war, kam ich dann auf die glorreiche Idee, es einfach einmal andersherum zu versuchen und siehe da: Auf kältester Stufe wurde es plötzlich brühheiß. Toll. Aber Wechselduschen soll ja gut für das Immunsystem sein, richtig? Gut in Corona-Zeiten.

 

Nach dem Abendessen fahren wir mit unseren Fahrrädern ein wenig durch die bezaubernde Innenstadt und danach an den Rhein. Die Dämmerung hat bereits eingesetzt und der Schein der ersten Lampions und Laternen spiegelt sich auf der Wasseroberfläche, was einen reizvollen Kontrast zu dem zart fliederfarbenen Abendhimmel bildet. Wieder einmal kann ich nicht glauben, dass ich in der privilegierten Position bin, so etwas Schönes erleben zu dürfen, während anderswo Menschen wegen der Corona-Maßnahmen verhungern, eingesperrt sind (wenn sie Glück haben, in ihren eigenen vier Wänden, sofern sie denn überhaupt welche besitzen) oder schlichtweg vor lauter Einsamkeit verzweifeln. Es ist einfach nicht fair. Und gleichzeitig würde es niemandem etwas bringen, wenn ich den Augenblick deshalb nicht genießen würde. Und so tue ich genau das: Sauge ihn mit aller Kraft tief in mich ein.

In Neles WG unterhalten wir uns ein wenig mit ihren Mitbewohnern, die allesamt begeistert von unserer verrückten Aktion sind. Anschließend trinken wir um der guten alten Zeiten willen Pisco und Tequila und ich lerne einen spanischen Trinkspruch, den ich sicherlich noch auf einigen Partys werde gebrauchen können: Para arriba, para abajo, al centro y… al dentro. Perfecto.

 

Nur ein wiiiinziges bisschen angetrunken suchen wir anschließend mitten in der Nacht auf unseren Fahrrädern den Weg durch eine völlig unbekannte Stadt. Wir fahren durch Parks, bei denen ich mir ziemlich sicher bin, sie auf dem Hinweg nicht passiert zu haben. Spätestens, als wir alle ziemlich verwirrt vor einer Mauer stehen, die sich nur mit einem steilen Treppenaufstieg überwinden lässt, ist es wieder an der Zeit für ein wohlplatziertes, theatralisch übermüdetes, viel zu lange aufgestautes… Eieiei.

Egal. Wer immer sofort den richtigen Weg findet, verpasst die schönsten Umwege.

Und wenn der Fahrlehrer nichts mehr sagt, dann: Geradeaus.

DAY 3

Etappe: Mainz – Koblenz (103 km)

 

Unsere nächste Etappe beginnt nicht wie die Tage zuvor mit einem schnellen Frühstück, sondern mit dem Zusammenpacken unserer Sachen und einem Besuch beim Bäcker. Wir treffen uns mit Nele zu einem Picknick und einer Lobpreis-Session am Rhein, wofür wir sie leider wieder viel zu lange warten lassen. Dafür ist die gemeinsame Zeit danach dann umso schöner: Wir schlagen uns zunächst die Bäuche richtig voll und genießen dann während wir singen das Sonnenlicht, das in warmen Sprenkeln durch das Blätterdach über uns fällt. Julian schreit eine aufdringliche Taube an, was die yoga-machenden Studenten neben uns sichtlich verunsichert, doch ansonsten ist der Morgen wundersam idyllisch und gemütlich.

Entsprechend spät brechen wir auch auf, verzögert noch einmal durch den Fakt, dass wir vergessen haben, Nele etwas wiederzugeben und ihr noch einmal hinterherfahren müssen. Nur so haben wir jedoch auch die Gelegenheit, unseren „Nett hier. Aber waren Sie schon einmal in Badem-Württemberg?“-Sticker an dem WG-Briefkasten anzubringen. Die Hintergrundstory dazu: Wir waren in Cusco und haben 3400m über Null genau so einen Aufkleber in der Nähe der berühmten Inka-Ruinen gefunden. So entstand dann die Idee. Und wenn man meinen beiden Schwaben glaubt, dann ist Badem-Württemberg tatsächlich der „place to be“ oder auch einfach: Drhoim.

(Schon eher grenzwärtig sozial, dass der Landkreis diese Dinger gratis verteilt und die Bevölkerung damit zum Vandalismus anstiftet, oder?)

 

Mein Po tut weh.

Und zwar echt abnormal stark. Heute merke ich es bei jedem Kilometer. Aber vielleicht hätte ich mir vor der Tour auch überlegen sollen, meinen harten Herren-Sportsattel gegen so einen „Thron“ einzutauschen, wie ihn Julian sich von dem Fahrrad seiner Mutter besorgt hat. Nun ja, immerhin bin ich nicht die einzige, die leidet. Louis scheint auch nicht mehr richtig gerade sitzen zu können. Schade nur, dass geteiltes Leid in diesem Fall einfach nur doppeltes Leid bedeutet.

Und doppelte Genugtuung für unseren große Reden schwingenden Julez. Eieiei.

 

 

Dennoch ist die Tour an diesem Tag einfach wunderschön. Wir kommen durch Bingen hindurch und obwohl ich an diesem Ort vor kurzem bereits mit Freunden war, bin ich aufs Neue begeistert von der schönen Sicht auf das Rheingaugebirge und das Niederwalddenkmal, den man von der Uferpromenade aus hat. Anschließend führt uns der Weg an der Rheinschleife und der Loreley vorbei, wir passieren sonnenbeschienene Strände und haben die gesamte Zeit über einen gigantischen Blick auf die Schlösser auf den Bergen neben uns, die wirken, als wären sie geradewegs einem Disneyfilm entsprungen.

Julez‘ kleiner Finger ist nun schon seit ein paar Tagen eingeschlafen, was ihm zwar ein wenig Sorgen bereitet, ihn jedoch nicht davon abhält, auf seinem Fahrrad waghalsige Box- oder Sprintmanöver durchzuführen. Fragt einfach nicht, seht es euch lieber in meinen Instagram-Stories an. So richtig in Worte fassen kann man diesen Fahrstil einfach nicht. 

 

Je länger wir unterwegs sind, desto sehnsüchtiger erwarte ich unsere Unterkunft, doch anstatt immer schneller voranzukommen und so richtig „durchzuziehen“, sind die Jungs ein wenig abgelenkt. Als wir an mehreren Kirschbäumen vorbeikommen, hängen sie sich zu zweit förmlich in die Äste, bis sie jede einzelne Kirsche geerntet und blutrote Hände von dem Massaker haben. Blöd, so eine Fruktoseintoleranz. Aber immerhin bietet es mir die Möglichkeit, mich in punkto Kirschkernweitspucken raffiniert aus der Affäre zu ziehen.

„Was ist das für dich, Elena?“, ärgert mich Julez. „Eine Anfechtung!“

Haha.

Im christlich traditionellen Sinne ausgedrückt, ist es in diesem Moment eher eine Anfechtung, ihm keine auf den Boden gefallenen Kirschen ins Gesicht zu werfen. Andererseits wäre das dann doch ein wenig „wüscht“. (Der aus Mannheimischen Kreisen entsprungene Begriff beschreibt ein im biblisch traditionellen Sinn unchristliches Verhalten. Dass wir drei oft gemeinsam in einem Zimmer schlafen, ist eigentlich bereits der Inbegriff der „Wüschtheit“.)

 

Ebenfalls „wüscht“ wird es, als wir kurz vor Koblenz aufs Neue anhalten, weil wir am Wegesrand einen Wasserspender mit kostenlosem, frischem Quellwasser entdecken. Nachdem wir unseren größten Durst gestillt haben, entbrennt aus irgendeinem im Rückblick nicht mehr vollständig rekonstruierbaren Grund eine heftige Wasserschlacht zwischen den einzelnen Parteien.

Am Ende des erbitterten Krieges befindet sich das Wasser überall: Auf dem Platz, in unseren Gesichtern und auf unserer Kleidung - nur nicht in unseren Flaschen.

Erst Louis ist es, der dem ganzen mit einem erschrockenen Gesichtsausdruck schließlich ein Ende macht. „Hey, aufpassen, habt ihr den Typ bemerkt, der uns da oben aus dem Fenster beobachtet?“

Julian und ich fahren zusammen, sehen uns hektisch um und registrieren erst, dass unser ansonsten so stiller, vernünftiger und ernster Zeitgenosse uns so richtig drangekriegt hat, als er laut zu lachen beginnt. Je länger wir miteinander unterwegs sind, desto offener werden wir und desto mehr sind wir wir selbst. Ich merke das an meinem eigenen Verhalten, registriere es aber auch bei Louis und es freut mich sehr, dass er sich so wohl zu fühlen scheint.

„Hätte nicht gedacht, dass ich mit euch Chaoten auf dieser Tour so viel Spaß haben würde.“, flachst er ein wenig später (natürlich auf Schwäbisch) und ich erkenne das Kompliment, das in diesem Witz versteckt ist.

„Ich finde es auch toll, dass wir diese Reise hier machen können.“, entgegne ich also und genieße wieder einmal den tollen Blick auf den Rhein, der mittlerweile von der Abendsonne angeleuchtet wird und wirkt, als hätte jemand einen Eimer goldene Farbe ins Wasser geschüttet. Wir erreichen Koblenz am späten Nachmittag in diesen ganz besonderen Minuten, in denen man das Gefühl hat, alles fotografieren zu müssen, weil das Sonnenlicht ansonsten womöglich nie wieder so rein und warm werden wird wie in diesem einen Augenblick.

 

Anstatt zuallererst zu unserem Appartement zu fahren, statten wir zunächst dem Deutschland-Eck einen Besuch ab, an dem die Mosel in den Rhein mündet. Ich sprinte die Treppenstufen zu dem Kulturdenkmal hinauf und genieße von oben sowohl die Aussicht auf das Sonnenstrahlen zurückschleudernde Wasser und die Flaggen der Bundesländer, als auch die schönen Gebäude und Kirchtürme, die ich von diesem Aussichtspunkt aus sehen kann. Über allem thront majestätisch die Festung Koblenz und Ehrenbreitstein. Warum hat mir bisher niemand erzählt, wie unheimlich schön diese Stadt ist!?

 

Unsere Wohnung liegt zentral direkt im Stadtkern neben einer Kirche. Sie ist unheimlich geräumig, modern und gemütlich eingerichtet und alles in allem vor allem erstaunlich günstig. Nachdem wir unsere Sachen in den zweiten Stock gebracht haben, gehen wir zuerst einmal einkaufen, - und zwar hungrig, was sich im Nachhinein als keine gute Idee herausstellt.

Julez und ich kaufen Bananen, Weintrauben, Möhren, Paprika, Parmesankäse, Pesto, Champignons, Schnittlauch, drei Packungen Gnocchis und bereits eingefärbte, gekochte Eier. (Dreimal dürft ihr raten, wessen Idee das mit den Eiern war...)

Wieder in dem Appartement angekommen springt Louis als Erster unter die Dusche, während ich bereits mit dem Kochen beginne. Es gibt eine Küchenzeile und sogar einige Gewürze, sodass ich als Louis wiederkommt bereits Frühlingszwiebeln und Champignons in der Pfanne angebraten habe.

„Ich gehe jetzt auch kurz duschen, in der Zwischenzeit koch einfach schon einmal die Gnocchis.“, instruiere ich ihn. „Dann können wir sie, wenn ich wiederkomme in der Pfanne mit anbraten. Mit ein bisschen Käse darüber wird das zum Schluss bestimmt so richtig lecker.“

Gut gelaunt und erfrischt stapfe ich etwa eine Viertelstunde später wieder die Treppe hinunter, in Erwartung, die fertigen Gnocchis und das Gericht zu sehen, das ich etwas früher bereits begonnen hatte. Stattdessen befindet sich in der Pfanne nun außerdem ein großer Käseklumpen, in dem sich ein Drittel der gekauften Gnocchis versteckt.

Ich starre Louis perplex an, der bereits beginnt, etwas unruhig auf der Stelle zu treten.

„Hast du etwa die ganze Tüte Käse da reingepackt?“

„Ehm…“

„Und die Gnocchis, also…“ Ein kurzer, prüfender Blick bestätigt mir, dass diese nicht goldbraun in der Pesto angeröstet wurden, wie besprochen, sondern stattdessen etwas mehlig und klumpig in der Mischung aus Pesto und Käse schwimmen, wobei letzterer in alle Richtungen seine Fäden zu spannen scheint wie eine Giftspinne in ihrem Netz.

Ich ziehe scharf Luft ein. Atme tief durch. Denke nach.

„Lass uns die zweite Packung auch noch kochen und daruntermischen. Vielleicht verteilt sich der Käse dann besser auf die Masse.“

Louis sagt nichts, nickt nur.

Ich hatte mich nach den heutigen 103 Kilometern wirklich auf das Essen gefreut und bemühe mich darum, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, kann es jedoch trotzdem nicht verhindern, dass die Pfanne schließlich etwas geräuschvoller auf dem Untersetzer landet, als notwendig.

Julians Blick huscht von Louis zu mir und wieder zurück, während wir beide bereits die Hände gefaltet haben und in unterschiedliche Richtungen starren.

„Können wir anfangen?“, frage ich.

„Was ist denn los?“

Louis mustert bedrückt seinen leeren Teller, dann sagt er zerknirscht: „Ich glaube, die Elena ist böse mit mir…“

Und dann kann ich plötzlich nicht mehr anders: Ich kann nicht mehr enttäuscht sein, ich muss laut loslachen. Es bricht einfach so aus mir heraus. Julez‘ Grinsen wird ebenfalls immer breiter und irgendwann sitzen wir alle da und halten uns die Bäuche vor Lachen: Völlig gehirnentleert nach dem ganzen Tag in der Sonne und an der frischen Luft und mit Beinen so schwer wie Backsteine.

Es dauert ungelogen eine halbe Stunde, bis wir uns einigermaßen wieder beruhigt und unser Abendessen gegessen haben, das zwar nicht nach viel mehr als geschmolzenem Käse, aber deswegen eigentlich doch ganz gut schmeckt.

 

Danach beschließen wir gegen 23 Uhr noch, Koblenz unsicher zu machen.

 

Es ist bereits dunkel, das Laternenlicht lässt die Gassen jedoch in besonderem abendlichem Charme daherkommen. Julez kauft sich bei einem ziemlich übermüdeten Verkäufer ein Eis, der nicht sonderlich erfreut darüber zu sein scheint, dass er diesem Touristen trotz der bereits abmontierten Schilder alle 36 Eissorten nennen muss. Noch weniger erfreut ist er, als ich dann doch noch beschließe, mir auch noch eine Kugel zu kaufen und er mir völlig entnervt ebenfalls die ganzen Namen herunterrattern muss. In dem ganzen Wortkugelhagel entscheide ich mich für die erste Sorte, die ich akustisch herausfiltern kann und komme in den Genuss des besten Bitterschokoladeneises meines bisherigen Lebens. 

DAY 4

Etappe: Koblenz – Bonn (77 km)

 

77 Kilometer. Das ist ja lachhaft. Wieso schwingen wir uns heute überhaupt aufs Fahrrad?

Okay, das klingt seltsam, aber ganz im Ernst: Je länger man unterwegs ist, desto mehr verliert man irgendwie das Verhältnis zu der Distanz, sodass 77 Kilometer am Ende plötzlich nach gar nicht mehr so viel klingen; vor allem, wenn man lediglich auf ebener Strecke an einem Fluss entlangfährt.

 

Wir schlafen aus und ich hole beim Bäcker Brötchen zum Frühstück, die wir mit Rührei, Käse und Pesto belegen. Ja, hört sich eklig und vielleicht auch ein wenig verzweifelt an, ist aber sehr lecker.

 

Der Himmel ist an diesem Tag etwas bedeckt, und wir kommen eher… nun ja… „gemütlich“ voran.

Der Plan, bei dieser winzigen Etappe keinen unnötigen Stress zu machen, wird zur Devise, sodass wir viele Pausen einlegen. Zwischendurch kehren wir außerdem in einem Restaurant am Wegesrand ein, dessen Besitzer die vielen Radfahrer, die lediglich einen Kaffee bestellen, vermutlich schon gewöhnt sind und dennoch eher „ertragen“ als willkommen heißen. Die täglich wechselnden Gerichte sind sogar handschriftlich auf die Karte übertragen, - in einer Schrift, die Julez zuerst furchtbar erschrecken lässt, weil er das „R“ in „Rindslende“ als „K“ interpretiert.

Nun ja, die Aussicht auf den Fluss ist super, die Stühle mit bequemen Polstern ausgestattet, die vor allem dem leidenden Louis und mir eine Freude machen und die Atmosphäre generell sehr gemütlich. (Der Leidende Louis… Das hat Potenzial für den Anfang eines richtigen Alliterations-Monsters: Der Loblieder lallende, leider leidende Louis las legitimerweise lustige, legale Legenden laut loslachender, leicht lebendiger Lerchen-Leichen. So, mehr fällt mir nicht ein. Wüscht genug.

Bitte einmal laut vorlesen. Sonst wirkt das nicht… ^^)

 

Auf den letzten Kilometern reißt Julian im Vorbeifahren plötzlich einen Fliederzweig ab und wedelt mir damit vom Fahrrad aus demonstrativ im Gesicht herum. „Hier, guck mal. Eine Blume. Nur für dich.“ Wie… ehh… einfallsreich.

„Ein Zeichen deiner immerwährenden Liebe, nehme ich an?“, feixe ich.

„Genau. Und ich habe keine Kosten und Mühen gescheut, um sie zu besorgen.“

 

Ich muss lachen, dann nehme ich das Geschenk kurzentschlossen an und transportiere den Flieder eingeklemmt zwischen Hand und Lenker bis zu unserem Ziel. 

 

Gegen 17 Uhr erreichen wir endlich Bonn. Julez gibt sein Bestes, uns durch den starken Innenstadtverkehr zu navigieren und bringt uns nach einigen Umwegen schließlich zu einem leicht heruntergekommenen Hostel im Randbezirk der Stadt. Wir beziehen unser Dreier-Zimmer, machen gemeinsam noch ein Work-Out und fahren dann mit unseren unbepackten Fahrrädern zurück in die Altstadt. Ohne Gepäck unterwegs zu sein, ist wirklich ein völlig anderes Fahrgefühl, es fühlt sich an, als habe man einen Motor.

Die Bonner Altstadt ist schön, die Stadt an sich für meinen Geschmack allerdings ein wenig zu groß, laut, chaotisch und unübersichtlich. Wir laufen etwas planlos auf der Suche nach Essen umher und beginnen dann einen ausgewachsenen Fress-Marathon: Zuerst holen wir uns Döner und Pommes, dann besichtigen wir einige Plätze und Gebäude, nur um etwas später noch eine Ladung Dürüm, Pizza und Döner zu besorgen. Vollgestopft mit Fast Food und dementsprechend zufrieden sitzen wir inmitten des geschäftigen Treibens der Stadt, bis es beginnt, zu Regnen. Im Dunkeln fahren wir schließlich zurück, die Fahrräder tragen wir sicherheitshalber in den Keller hinunter.

 

 

 

DAY 5

Etappe: Bonn – Bochum (116 km und viel zu viele Höhenmeter)

 

Das stellt sich bereits am nächsten Tag als überaus gute Idee heraus, da von den drei Fahrrädern, die am Vorabend noch vor dem Hostel abgeschlossen waren, nun nur noch Einzelteile vorhanden sind: Ein Reifen, ein Rahmen und eine undefinierbare Sammlung aus dem Rest.

Die heutige Strecke führt uns auch über Köln, vor Leverkusen die letzte Stadt auf unserer Tour, bevor wir den Rhein endgültig verlassen. Wir machen das obligatorische Foto vor dem Kölner Dom, bringen in der Nähe unseren „Nett hier. Aber waren sie auch schon in Badem-Württemberg?“-Sticker an, und setzen uns anschließend noch in ein nettes Café.

 

Besonders lustig wird die heutige Fahrt durch die Hochdeutsch-Challenge: Beide Schwaben müssen so lange wie möglich versuchen, ausschließlich Hochdeutsch zu reden, - wer länger durchhält, hat gewonnen. Dafür habe ich mich bereit erklärt, am nächsten Tag so viel wie möglich auf Schwäbisch zu sagen. Julian macht seine Sache sehr gut, doch Louis verliert, als er in einer Pause fragt, ob wir denn schon „a Bildle gemacht“ hätten. Er bekommt eine weitere Chance, in der Kölner Innenstadt ertappe ich ihn jedoch wieder dabei, wie er etwas auf Schwäbisch zitiert.

„Louis.“, sage ich alarmiert, „Das war Schwäbisch!“

„Nein, das zählt überhaupt nicht!“, verteidigt er sich sofort. „Des isch’n Zitat!“

Es dauert eine Weile, bis er registriert, dass er selbst seine Ausrede auf Schwäbisch formuliert, - und dadurch nun endgültig verloren hat. Ich muss lachen und kann damit die nächsten Minuten erst einmal nicht mehr aufhören, während Julez sehr zufrieden damit ist, die Hochdeutsch-Challenge offiziell gewonnen zu haben. Und das, obwohl er eigentlich eher auf der anderen Seite vom Pferd fällt, mit dem geschwollenen Altdeutsch, das er anscheinend für Hochdeutsch hält. Aber egal, ich will ihm die gute Laune nicht verderben. Und ich will auch nicht schon wieder als Grammatik-Nazi bezeichnet werden, wie in Peru, also halte ich ausnahmsweise einmal meinen Mund.

Jedes Mal, wenn Julian „Sinn ergibt“, oder „besser als“ oder „das sind diejenigen, die“, anstatt von „die, wo“ sagt, sieht er mich beifallheischend an und das ist einfach zu lustig, um ihn nicht zumindest ab und zu in höchsten Tönen dafür zu loben… 

 

Nach der Pause in dem Café geht es weiter Richtung Leverkusener Fußballstadion, das Julez unbedingt noch einmal im echten Leben sehen möchte.

Dann führt uns der Weg vom Fluss weg in den Wald. Und wo das ebene Flussbett aufhört, beginnen natürlich auch die Höhenmeter. Der „bedrohliche“ Berg, vor dem wir uns nun schon seit Tagen immer gruseln, wenn wir gemeinsam einen Blick auf das Höhenprofil werfen.

Letzten Endes muss ich jedoch gestehen, dass ich mich ganz ehrlich auf die Etappe gefreut habe. Durch das regelmäßige Training im Harz liebe ich die Berge: Die Abwechslung zwischen Herausforderung und Abfahrt, nachdem man sie gemeistert hat, macht eine Tour einfach so viel spannender!

Obwohl die Jungs anfangs ganz schön am Jammern sind und ich voller Stolz behaupten kann, sie des Öfteren abzuhängen, gewinnen auch sie nach und nach immer mehr Gefallen an der Strecke.

Und auch wenn der Ruhrpott an sich nicht wirklich mit landschaftlicher Schönheit glänzen kann, kommen wir auf der Höhe Velbert und Wuppertal tatsächlich auch an sehr schönen Ausblicken vorbei.

Vor allem ein Abschnitt an der Ruhr wirkt im warmen Nachmittagslicht wie aus einem Gemälde entsprungen.

Dennoch ist die Streckenlänge nicht zu unterschätzen: Gerade durch die vielen Höhenmeter sind 116 Kilometer doch eine ganz schöne Hausnummer und spätestens nach zwei Dritteln der Strecke brennen mir vom vielen Bergauffahren gehörig die Waden und Oberschenkel.

Die Blume habe ich mit dem festen Entschluss, sie heil ans Ziel zu transportieren, sorgfältig in einer meiner Fahrradtaschen verstaut. Hoffentlich geht es ihr noch gut, wer weiß, was ich mir dann von  Julian anhören muss. Am Ende fängt der dann plötzlich wieder an, zu schwäbeln! Dem gilt es, mit aller Kraft entgegenzuwirken.

 

„Das ist der letzte Anstieg, so wie es aussieht.“, sagt Julez irgendwann nach einem Blick auf sein Handy und obwohl sich im Nachhinein herausstellt, dass diese Information nicht so gaanz der Wahrheit entspricht, tat es in diesem Augenblick sehr gut, das zu hören.

Meine Motivation ist dadurch jedenfalls wieder da, während Louis auf den letzten Kilometern vor unserem Ziel anscheinend die Nase voll hat, vom Fahrrad steigt und schiebt.

„Was ist denn jetzt los?“

„Das kannst du doch nicht machen!“

„Keine Müdigkeit vorschützen!“

Julez und ich protestieren lautstark durcheinander.

Woraufhin Louis ohne einen Kommentar wieder auf sein Fahrrad steigt und in einem Affenzahn vor uns den Berg hinaufrast, dass wir ihm nur sprachlos hinterherstarren können.

Es ist unheimlich entspannt, mit zwei eigentlich so unkomplizierten Jungs unterwegs zu sein.

Manchmal ist es jedoch auch ziemlich verwirrend.

 

In Bochum übernachten wir bei Lara, die den größten Teil der Zeit gemeinsam mit uns in Peru war.

Mit ihr habe ich mich vor Ort unheimlich gut verstanden und ich freue mich jetzt schon auf die gemeinsame Zeit. Wir haben insgesamt extra eine Etappe geskipped, um dafür den ganzen sechsten Tag Pause machen und bei ihr sein zu können.

Als Abendessen erwartet uns eine riesige Portion Nudeln mit Tomatensoße, die am Ende kaum ausreicht, so sehr scheinen sich unsere Mägen in den letzten Tagen an die gigantischen Essensmengen gewöhnt zu haben. Allerdings verbrauchen wir ja jeden Tag auch einiges an Energie.

Anschließend sitzen wir einfach da, lachen, erzählen, tauschen uns aus und schwelgen in Erinnerungen an die vergangene Zeit in Peru.

Dann trinken wir noch ein Glas Wein und als Louis sagt, dass er „eher so der liebliche Typ“ sei, packt Lara den Likör aus. Nomm. Aber lange halte ich an diesem Abend dennoch nicht mehr aus: Vielleicht ist es die Anstrengung, vielleicht die viele Sonne und das leckere Abendessen; möglicherweise auch alles zusammen, - jedenfalls bin ich, kaum, dass mein Körper an diesem Abend auf der Matratze aufschlägt, binnen Sekunden auch schon eingeschlafen.

 

Etwas, das mir ansonsten äußert selten geschieht. 

DAY 6 (Break day)

Etappe: Zu Laras Gemeinde und zurück (5 km, oder: a baar medr)

 

Das erste, was wir an diesem Tag tun, ist es, erst einmal auszuschlafen und dann eine gefühlte Ewigkeit lang gemütlich zu frühstücken. Anschließend steigen wir wieder auf unsere Fahrräder, diesmal jedoch lediglich für ein paar wenige Kilometer, um zur Friedenskirche Bochum zu gelangen, in der Laras Vater Pastor ist.

 

In der Gemeinde machen wir gemeinsam Lobpreis, während draußen im ersten Regen unserer Tour die Welt untergeht. Danach kaufen wir, - glücklicherweise wieder bei trockenem Wetter, - für das Grillen ein, das wir für den Abend geplant haben und gehen anschließend noch etwas in dem nahegelegenen Wald spazieren.

Dieser Tag rettet uns wirklich den Arsch, - und das im wahrsten Sinne des Wortes.

Als Julez und ich in Laras Wohnung noch ein kleines Work-Out machen (wir ziehen das jetzt durch!!), nimmt Lara davon ein kurzes Video auf und schickt es mit den Worten: „Bereits knapp 500 Kilometer in den Knochen und sie sind immer noch am Sportmachen“ an eine Freundin.

Als sehr treffende Antwort erhält sie ein verwirrtes: „Und das sind wirklich deine Freunde?“, worüber wir alle herzlich lachen müssen.

 

Zum Abendessen gibt es Fleisch, Süßkartoffelpommes, Gemüse, Mais, Salat, Grillkäse, Kräuterbaguette und Brotchips, die ich aus den bereits trocken gewordenen Proviantbrötchen mache. (Hier wird nichts weggeschmissen!) Die Speisen erinnern uns alle an Peru, vor allem, da auch noch Berta vorbeikommt, die mit uns ebenfalls vor Ort war.

Irgendwie fühlt sich das Ganze seltsam surreal an: Als hätte man uns alle für einen kurzen Moment wieder aus Deutschland herausgerissen und tausende von Kilometern zurück nach Südamerika transportiert. Es ist das erste Mal, das wir uns seit der Rückholaktion wiedersehen und es ist total unwirklich, dass das in Deutschland geschieht, - dafür sind die Eindrücke des vergangenen halben Jahres einfach noch zu frisch. Doch obwohl wir es einerseits kaum glauben können, ist es andererseits natürlich wunderschön, wieder zusammen zu sein: Bei den einzigen Leuten, die all den Frust, die Trauer und die Verzweiflung wirklich vollkommen nachvollziehen und verstehen können.

 

Es wird ein geselliger, langer, wunderschöner Abend. Wir spielen noch 6 nimmt und Wizzard und lernen außerdem eine Freundin von Julez kennen, die spontan auch noch vorbeikommt.

 

Der Breakday war, - vor allem im Rückblick, - wirklich die beste Entscheidung, die wir treffen konnten.

DAY 7

Etappe: Bochum – Münster (87 km)

 

Zum Spätstück gibt es Laugaweggle mit Breschdlengsgsäls.

Heute bin ich mit Schwäbisch dran, also begrüße ich die Jungs mit einem „Gudamorga“, das von ganz hinten aus dem Hals kommen muss.

Ich ko no ned so goad Schwäbisch schwätzä, abr a bissle isch emmer no bessr wia gar nix ond des isch oifach schee, gell?

 

 

Nein, Spaß beiseite, tatsächlich wird es rein konzentrationstechnisch eine ziemliche Herausforderung, doch als ich einmal kurz vor einer Pause sage: „Wart mo gschwind.“, antwortet Louis darauf mit den Worten: „Da wird’s mir ja ganz warm ums Herz.“ Die Jungs amüsieren sich offensichtlich köstlich, - und das ist es wert. 

Wir kommen gut voran, haben bereits um die Mittagszeit herum zwei Drittel hinter uns gebracht und erreichen Münster trotz der späten Abfahrtszeit bereits am späten Nachmittag. Selbst von dem etwas aufdringlichen Verkäufer eines Trödelmarktes, der uns im Vorbeifahren einen kleinen Kühlschrank aufschwatzen will, lassen wir uns nicht aufhalten, obwohl Julian als Reaktion darauf vor Lachen fast vom Fahrrad fällt.

Seit Koblenz begleitet uns zusätzlich zu meiner Fliederblume nun schon eine mittlerweile recht zerknirschte Frühlingszwiebel in der Außentasche von Julians Rucksack, den er in einem aufwendigen Manöver vor jeder Fahrt hinter seinen Sattel auf den Gepäckträger schnallt. Die einzelnen Stängel zeigen geknickt nach unten und die ehemals grünen Ränder sind bereits ganz ausgefranst. Aber nein, weiterhin gilt die Devise: Hier wird nichts weggeschmissen! Selbst die letzte Packung Gnocchis transportieren wir noch fleißig von Station zu Station. 

 

In Münster übernachten wir bei einer Krankenschwester, die ebenfalls einmal bei Diospi gearbeitet hat. Des weiteren stößt ab dieser Stadt Louis Fischer zu uns, den wir auch in Peru kennengelernt haben, sodass wir die letzten beiden Etappen nun zu viert bewältigen werden.

 

Anika gibt uns gemeinsam mit einer Freundin eine exklusive Stadtführung, - auch wenn ich das Gefühl habe, erst selten so viel gesehen und gleichzeitig so wenig darüber gelernt zu haben. Nun ja, dafür legt Louis Fischer ein erstaunliches Talent darin an den Tag, spontan Sehenswürdigkeiten und Geschichten dazu zu erfinden: „Hier seht ihr das Sieben-Zepter-Haus. Es heißt so, da auf der alten Fassade sieben goldene Zepter montiert sind. Oh, auf dieser Seite auch, das habe ich ja noch gar nicht gesehen, also man ist gerade noch dabei, den Namen offiziell in 14-Zepter-Haus zu ändern.

Sehr wichtiges Gebäude hier in Münster.“

Mir gefällt die Stadt mit ihren Kirchen, dem Dom und dem Schloss tatsächlich unheimlich gut, lediglich der ewig bewölkte, graue Himmel und sicherlich auch unsere Müdigkeit bewirken, dass wir uns mit fortschreitender Zeit einfach immer mehr auf unser Bett freuen. Was dem Genuss eines echten Pisco Sours kurz vor dem Einschlafen natürlich trotzdem nicht im Wege steht… ;)

„Sonst kann ich morgen ja überhaupt nicht mit euch mithalten.“, erklärt Louis Fischer, während er grinsend das rohe Eiweiß schlägt und die Limetten presst. Sehr vertrauenswürdig, denke ich, und hoffe inständig, dass das braune Gewürz, das er am Ende in die Gläser streut, wirklich Zimt ist.

 

 

DAY 8

Etappe: Münster – Haselünne (92 km)

 

Es scheint Zimt gewesen zu sein, jedenfalls kommen wir nach einer großzügigen Portion Pancakes von Anika gut auf die Beine und natürlich auch auf die Räder. Es nieselt bereits ein wenig, als wir losfahren, jedoch noch in einem so geringen Ausmaß, dass man es gut ignorieren kann.

Schon bald habe ich es angesichts des Fahrtwinds, der mir gemeinsam mit der Musik von NF um die Ohren weht, völlig ausgeblendet.

 

Dass wir immer höher in den Norden kommen, merkt man nun spätestens an der Temperatur. Zeigte das Thermometer an unserem ersten Tag noch stolze 27 °C an, so sind es nun nur noch knapp 16, - wenn überhaupt. Dafür schwitzt man allerdings auch nicht so viel und kommt außerdem nicht in die Versuchung, allzu lange Pausen zu machen: Sobald der erste (also, meistens ich) zu frieren beginnt, schwingen wir uns wieder auf die Räder und fahren weiter. 

 

Nun ja, vielleicht war doch nicht nur Zimt in den Drinks, denn wie ist es sonst zu erklären, dass Julez sich über jede Doppel-Ampel (zwei rote Ampelmännchen übereinander, anstelle von nur einem) eine gefühlte halbe Stunde aufregt. Laut Anika soll diese Strategie im Falle eines Ausfalls des einen Anschlusses verhindern, dass die Ampel die Fußgänger nicht mehr von dem Über-die-Straße-gehen abhält. Hm…. Ah ja. Aber so sehr darüber ärgern muss man sich nun auch wieder nicht.

Julians Verachtung geht so tief, dass er an einer Ampel sogar einen der gefürchteten Sticker hinterlässt. Mit dem einzigen Unterschied, dass es an dieser Stelle eben so gar nicht „nett hier“ sondern , - wenn man seinen Worten glauben schenken mag, - einfach nur unnötiger Energie- und Materialverbrauch ist.

Und apropos Julian: Heute habe ich während einer Pause in seinem Rucksack meine nun schon ziemlich trockene Blume entdeckt. Das Problem: Ich kann mich nicht so recht entsinnen, wie sie dorthin gekommen sein soll. Aber wer weiß, vielleicht hat er sie mir geklaut und freut sich schon jetzt darauf, sie mir irgendwann triumphierend unter die Nase zu halten.

Viel Zeit, darüber nachzudenken, habe ich jedoch nicht.

 

Auf den letzten 25 Kilometern beginnt es dann nämlich doch noch, zu regnen, - und zwar ziemlich heftig. Mir tut Louis (also, Fischer) leid, der die ganzen schönen Sonnentage verpasst hat und nun ausgerechnet an diesen letzten Tagen mit uns durch das Sauwetter radeln muss.

 

Doch er erträgt es mit Fassung und wird, - wie wir anderen auch, - in Haselünne mehr als königlich dafür entlohnt. Die „entfernten Bekannten“ von Louis stellen sich als ein herzensgutes, unheimlich freundliches und offenes Ehepaar heraus. Die beiden nehmen uns herzliches in Empfang und wir dürfen, da sie schon etwas älter sind, sogar in den Betten ihrer bereits ausgezogenen Kinder schlafen. Auf unseren bereits bezogenen Matratzen liegen für jeden ein Willkommensgruß und eine Rittersportschokolade und damit noch nicht genug: Extra für uns wird gegrillt, Tee und Kaffee gekocht und zusammen mit der heißen Dusche und in trockenen Klamotten beginnen meine gefrorenen Glieder so langsam wieder aufzutauen. Ich fühle mich endlich wieder wie ein Mensch, während unsere triefnassen Klamotten sämtliche Wäschespinnen und Heizungen in Beschlag nehmen. Nach dem Abendessen spielen wir noch gemeinsam Uno und nach einem letzten, kurzen Abend-Work-Out („wir ziehen… das… jetzt durch, stöhn“) geht es dann endlich ins Bett. 

DAY 9

Etappe: Haselünne – Emden (100 km)

 

Es ist der letzte Tag. Die letzte Etappe, die es, -  meine Mutter würde jetzt sagen: zu „berappen“ gilt. Kaum zu glauben. Doch das weiterhin schlechte (beziehungsweise: noch schlechtere) Wetter macht es mir leicht, mich innerlich damit abzufinden, dass dieses Fahrrad-Vagabundenleben nun bald ein Ende haben wird. Es ist ein so völlig anderer Lebensstil, man denkt nicht an Morgen oder an den Alltag, man denkt nur an die nächste Etappe, die nächste Pause, die nächste Mahlzeit und das tägliche Ziel, das es zu erreichen gilt. Schade eigentlich, dass das Leben nicht immer so herrlich unkompliziert sein kann. Wenn es regnet, dann bastelt man sich eben aus Müllsäcken einen Poncho und sorgt mit um die Socken festgeschnürten Plastiktüten darum, dass durch die Schuhe kein Wasser eindringt. Selfmade gumboots? Nichts leichter als das!

 

Heute regnet es jedoch ungelogen die ganze Zeit durch. Bereits nach einer Stunde bin ich trotz Regenhose durchnässt bis auf die Knochen, was Julian natürlich zutiefst befriedigt: Er hatte sich von Anfang an über die Nutzlosigkeit dieses Utensils lustig gemacht.

Durch die Nässe und den Wind verbrauchen unsere Körper zusätzlich Energie, um sich warm zu halten, doch wir trauen uns kaum, anzuhalten, aus Angst, dann zu schnell auszukühlen.

Also heißt es Trampeln: Treten, Treten, Treten, bis die Beine es ganz automatisch tun.

Oder, bis Louis plötzlich dramatisch zurückfällt und wir eine gefühlte Ewigkeit brauchen, um zu merken, dass er einen Platten hat. Acht Tage lang wäre das überhaupt kein Problem gewesen und ausgerechnet am neunten, im strömenden Regen, gibt sein Reifen den Geist auf.

 

Und nicht nur das: Uns sitzt außerdem noch die Zeit im Nacken, denn heute wollen wir endlich in Emden ankommen und Jannas Mutter, mit der Julian das alles abgesprochen hat, kann uns nur bis um 17:00 Uhr in Empfang nehmen. Anschließend will die nichtsahnende Janna ihren Vater besuchen, - und der wohnt nun einmal nicht in Emden. So eine… 

Nun ja. Es hilft ja alles nichts. Also suchen wir auf die Schnelle ein Haus mit Carport, klingeln an der Tür und fragen die alte Dame, die öffnet, ob wir unter dem Wellblechdach schnell unseren Reifen flicken können. Während die Jungs sich um das Fahrrad kümmern, läute ich ein weiteres Mal an der

Tür und frage die arme alte Frau, ob ich mir vielleicht kurz einen Fön ausleihen dürfte.

Ja, lacht nicht, ich war verzweifelt.

Und so ein Fön ist ein wahres Wunderwerkzeug, wenn es darum geht, seine Klamotten in kurzer Zeit zumindest ein bisschen zu trocknen. Und dann ist er auch noch so schön waaaaarm…

Aber da ich ja auch nicht ewig dastehen und den fremden Fön einer fremden Frau in Beschlag nehmen kann, verabschiede ich mich nach ein paar Minuten wieder, bedanke mich artig und wage mich dann schweren Herzens schließlich zurück nach draußen, in das Unwetter hinein.

 

Louis‘ Reifen ist fürs erste geflickt, sodass wir unseren Weg fortsetzen können. Der Blick auf die Uhr zeigt, wie uns so langsam aber sicher die Zeit davonläuft. Julez ist in stetigem Kontakt mit Selina, die Janna ebenfalls „zufällig“ zu dieser Zeit besuchen kommt und nun alles versucht, um sie davon abzuhalten, zu ihrem Vater zu fahren. Jede neue Nachricht von ihr lässt uns zwischen Hoffen und Bangen hin und her taumeln. Und das nicht nur im übertragenen Sinn. Wir haben den Deich mit den vielen süßen Schafen in Emden schon längst erreicht, doch es sind immer noch knapp 30 Kilometer bis zu Jannas Haus.

Das Wasser steht mittlerweile in meinen Plastiktüten-Gummistiefeln, die bei jedem Tritt in die Pedale ein unangenehm platschendes Geräusch von sich geben. Noch schlimmer ist jedoch der Regen, der nun direkt von vorne kommt und mir so ins Gesicht fällt, dass ich meine Augen zukneifen muss, um überhaupt noch etwas sehen zu können. Und mit so halb geschlossenen Augen zu fahren, trägt nicht unbedingt dazu bei, dass man sich wacher fühlt, - im Gegenteil: Hätte ich nicht eine Mission und wäre es um mich herum nicht so furchtbar ungemütlich, dann würde ich vermutlich einfach mein Fahrrad in den Graben werfen und mich irgendwo am Wegesrand schlafen legen. Wie gut, dass ich drei zumindest annähernd vernünftige Jungs dabei habe, die mich gerade noch davon abhalten können.

 

Zehn Minuten nach fünf erreichen wir dann endlich, endlich das Haus von Jannas Mutter. Nur irgendwie von der falschen Seite, über den Hintereingang. Wie gut, dass wir wenigstens Selina kontaktieren können, sodass die beiden schließlich doch noch in den Garten gelaufen kommen und Janna uns etwas verwirrt in Empfang nimmt.

„Was glaubst du, wo wir gestartet sind?“, frage ich.

Janna denkt kurz nach, dann rät sie: „Hm… Vielleicht Norddeich?“

Fast. „Nein! Stuttgart!“

 

Und dann beginnen wir alle, zu lachen: Janna, weil sie es nicht glauben kann, Selina, weil sie so erleichtert ist, dass sie Janna noch so lange aufhalten können und wir, weil wir einfach völlig nass und erschöpft sind, aber vor allem auch voller Adrenalin und Triumphgefühl, weil wir es tatsächlich geschafft haben. Noch sind wir nicht ganz am Meer, aber immerhin sind wir schon einmal in Ostfriesland. Und hier haben, - abgesehen von dem Deich, -  die Berge und Hügel nun wirklich ein Ende. Wir sind, - um es mit Jannas Ostfriesisch zu sagen, - zu guter Letzt tatsächlich im Hammrich angekommen. (Also echt. Nicht einmal Word kennt dieses Wort.)

Drinnen bei Janna geht es zuallererst schnurstracks unter die warme Dusche. Anschließend trinken wir Tee, - und zwar so richtig: Mit klassischem Ostfriesentee und natürlich auch dem passenden Besteck, mit Kluntje und selbstverständlich Kondensmilch. Wenn man noch einen kleinen Rest Tee in der beinahe geleerten Tasse lässt, dann will man übrigens noch eine Portion. Wusste ich dann auch erst nach der zweiten.

Erst jetzt, als ich mit Selina und Janna wiedervereint bin, bemerke ich, wie sehr ich meine WG-Mädels aus Peru vermisst habe. Es ist einfach so schön, nach dem ganzen Rückholstress wieder beisammen zu sein, dass ich es noch gar nicht richtig glauben kann. Zum Abendessen gibt es Brezeln, Flammkuchen, Salat und Wraps und als wir uns so richtig satt gegessen haben, machen wir noch zusammen Lobpreis: Singen Lieder, um Gott zu preisen, - ganz so wie während unserer Hauskreise in Peru.

 

Danach kümmern wir uns noch darum, unsere Sachen trocken zu bekommen. Ich habe mir mal wieder einen Fön geschnappt, sitze mit dieser erfüllenden Aufgabe glücklich und zufrieden auf dem Fliesenboden und kann aus irgendeinem Grund, der sich mir selbst ebenfalls nicht so richtig erschließt, nicht mehr aufhören zu lachen. Manchmal habe ich solche Aussetzer.

„Was ist denn jetzt schon wieder los?“, fragt Louis.

„Keine Ahnung. Ich freue mich einfach hier zu sein. Und dass Sommer ist. Da sind die Tage länger, wisst ihr? Im Winter, wenn das Licht weniger wird, dann geht es mir oft einfach nicht so gut.“

„Na, dann bin ich ja wirklich, wirklich sehr froh, dass wir uns im Sommer kennengelernt haben. Wenn du jetzt schon so drauf bist… Wie soll das denn im Winter werden? Da muss man ja um sein Leben fürchten!“

Woraufhin ich einfach nur noch mehr lachen muss.

Louis mustert mich mit einem Gesichtsausdruck, der irgendwo zwischen Verwirrtheit und Belustigung steht. „Du bist schon ein besonderer Mensch, Elena.“

Dem können alle Anwesenden anscheinend nur zustimmen. Aber ich freue mich über diesen Satz, weil ich letzten Endes weiß, dass er doch irgendwie als Kompliment gemeint ist. Und weil ich inmitten von all diesen Menschen so sehr ich selbst sein kann, ohne mich verstellen zu müssen.

Weil sie mich einfach trotz allem akzeptieren und gern haben.

 

Es ist etwa 23 Uhr, als wir uns so langsam bettfertig machen.

Während ich noch ein paar Sachen aus dem Bad hole, fragt Julez plötzlich mit einem lauernden Unterton in der Stimme: „Na, ist die Blume auch heil hier bei Janna angekommen?“

„Ehh… Also… Die war doch in deinem Rucksack, oder?“, verteidige ich mich schnell.

Das scheint ihn ein wenig aus dem Konzept zu bringen. Er beginnt ungläubig zu lachen.

„Was macht sie da?“, frage ich, woraufhin er mich mit einem vernichtenden Blick abschätzig mustert.

„Ja, gute Frage. Wie ist die da nur hingekommen? Wolltest du sie nicht eigentlich bis nach Emden transportieren?“

Ich winde mich ein wenig. „Ja, schon, aber… also, ich dachte, du hättest sie vielleicht genommen…“

„Habe ich auch. Aber weißt du auch, wo?“

„In Münster hatte ich sie noch…“

„Hm…“

„Komm schon, hilf mir auf die Sprünge!“ Ich starre auf die Blume in meiner Hand, die mittlerweile mehr als vernachlässigt aussieht. Ein heruntergekommenes Zeichen von Julez‘ unendlicher Liebe. Schon tragisch, irgendwie.

Julian genießt es sichtlich, mich auf die Folter zu spannen.

„Weißt du noch, wie ich dich am Morgen in Münster gefragt habe, ob du auch wirklich nichts vergessen hast?“

Ehm… ja. Vielleicht. Dunkel schleichen sich Erinnerungsfetzen in mein Gedächtnis.

„Ich habe dich zweimal gefragt. Zweimal!“

Jetzt verstehe ich auch, warum er so losgeprustet hat, als ich Benni gegenüber in einer Sprachnachricht erwähnt habe, wie stolz ich darauf sei, bisher noch überhaupt nichts irgendwo liegen gelassen zu haben.

Als ich nichts zu erwidern scheine, fährt Julez mit gut imitiertem, gekränktem Ton fort:

„Auf dem Boden lag sie. Achtlos in die Ecke geworfen. Zertrampelt. Verschmäht. Einsam und Verlassen.“

„Upps.“

Meine Reaktion auf diese Offenbarung scheint ihm offenbar nicht reuevoll genug zu sein, denn er presst beleidigt die Lippen aufeinander. Vielleicht tut er das jedoch auch, um sich das Lachen zu verkneifen, wer weiß.

„Upps. Soso. Mehr hast du nicht dazu zu sagen. Weißt du was, vielleicht hast du sie einfach nicht verdient.“ Und damit schließt er geräuschvoll die Tür vor meiner Nase.

 

Bereits im Halbschlaf tapse ich etwas später in das Zimmer, in dem ich schlafen darf (Jannas Mutter hatte natürlich schon alles bezogen und Janna hatte sich tatsächlich auch ein wenig gewundert, wer da so alles zu Besuch kommen sollte…) und erstarre: Auf meinem Bett liegt eine Blume. Und zwar die Blume. Nun kann ich nicht mehr anders. Ich pruste laut los und mache mich samt Fliederzweig im Schlepptau geradewegs auf den Weg in Julez‘ und Louis‘ Zimmer. Dort angekommen rausche ich, ohne Julian eines Blickes zu würdigen, direkt auf Louis zu und überreiche ihm mit einer würdevollen Geste die Blume. „Hier. Als Zeichen meiner Liebe. Ich habe keine Kosten und Mühen gescheut.“, zitiere ich, dann renne ich so schnell ich kann, wieder hinaus, bevor Julez mir irgendetwas an den Kopf werfen kann. „Jetzt offenbarst du die dunklen Abgründe deiner Seele!“, schreit er mir hinterher. Und während Selina und ich in unseren Zimmern Tränen lachen, denke ich, dass ich seit langem nicht mehr so glücklich war.

 

 

 

DAY 10

Etappe: Emden – Norderney (40 km + Fähre)

 

In dem Zimmer, in dem ich schlafe, kann man die Rollläden ganz zuziehen, sodass ich bis um neun Uhr durchschlafe. Erst jetzt merke ich, wie sehr mein Körper sich auf diese Ruhe und Erholung gefreut hat und genieße es, sie ihm geben zu können.

 

Wir frühstücken erst gegen halb zwölf und beschließen dann einstimmig, dass wir jetzt hier nicht aufhören können. Wir müssen einfach noch an die Nordsee fahren. Um dort hinzukommen, gibt es verschiedene Alternativen, am reizvollsten scheint es uns jedoch zu sein, mit dem Fahrrad nach Norddeich zu fahren, um von dort aus mit der Fähre zur Norderney überzusetzen.

Gesagt, getan!

 

Die letzten 40 Kilometer begleiten uns sogar Selina und Janna. Und die Tour wird tatsächlich wieder ziemlich spannend: Einmal stehen wir an den Bahngleisen und erschrecken uns furchtbar, als wir aus einem der Lautsprecher auf unser „Bahnübergang geräumt“ tatsächlich eine Antwort bekommen.

Danach führt uns Komoot weg von den normalen Fahrradwegen querbeet über die Felder; durch Schlammpfützen und tiefen Morast hindurch. Am Ende sind meine Schuhe klitschnass und dabei haben wir gerade erst die Hälfte der Strecke hinter uns gebracht.

Als der Weg nach einigen Kilometern wieder besser befahrbar wird, tauschen Janna und Julez die Fahrräder, woraufhin Janna uns plötzlich allen davonzieht und Julian auf dem Hollandrad Blut und Wasser schwitzt, um nicht völlig nach hinten abzufallen.

Zu guter Letzt radeln wir auch noch durch den Burger-King-Drive-In. Eigentlich hatten wir das während der gesamten Fahrt mit Mc Donald’s geplant, es jedoch irgendwie dann doch nie geschafft. Aber Pommes sind und bleiben Pommes und auch die Burger sind mehr als essbar.

Wenn man an der frischen Luft ist und sich bewegt, dann schmeckt einem ohnehin alles. Und wenn man auf der Fähre nach Norderney sitzt, dann umso mehr.

 

Natürlich erhält auch die ostfriesische Insel einen Badem-Württemberg-Aufkleber und nach den obligatorischen „We-made-it“-Bildern, auf denen wir an der Nordsee angekommen unsere Fahrräder in die Luft halten, spazieren wir gemeinsam am Strand entlang und genießen die Sonne, die ab und an schüchtern durch die Wolkendecke lugt. Während uns der Wind um die Nase peitscht und ich wie ein kleines Kind ausgelassen und barfuß durch den Sand sprinte, merke ich, wie ich beginne, mich völlig frei zu fühlen: Unabhängig davon, was Corona alles verändert hat, sind wir trotzdem noch unheimlich privilegiert. Allein die Tatsache, dass ich diese Art von Tour habe unternehmen können, ruft in mir ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit hervor, - vor allem, da ich selbst miterlebt habe, wie rigide die Maßnahmen teilweise in anderen Ländern umgesetzt werden. Verstärkt wird dieses Gefühl der Dankbarkeit durch leckeren Kaffee und Kuchen, den wir uns auf der Sonnenterasse eines netten Cafés genehmigen.

Es ist einer dieser Momente, in denen das Leben einfach ausnahmslos schön ist.

 

„Was ist, gehen wir rein?“, fragt Julez mit einem Blick auf die windgepeitschten Wellen.

„Auf keinen Fall!“, protestiere ich sofort. „Hast du mal darauf geachtet, wie kalt allein der Sand ist?“

„Also, ich bin dabei.“, sagt Louis.

Ich sehe von einem zum anderen, dann auf das Meer und wieder zurück.

„Ach, scheiße.“, murmele ich. Und dann, - natürlich, wie könnte es anders sein - trotte ich hinter den beiden Jungs her zur Umkleide, um meine Badesachen anzuziehen.

Alles andere lässt mein Stolz einfach nicht zu.

 

„Drei, zwei, eins!“, zählt Selina an und dann rennen wir auch schon los, sprinten gemeinsam in die Wogen hinein, ungeachtet der Temperatur, die jedes einzelne Haar meiner Gänsehaut im ersten Moment schockgefrieren zu scheint. Aber das ist es allemal wert. Nass, zitternd und glücklich schlüpfe ich als erste wieder in meine warmen Sachen, während die Jungs noch mit etwas seltsamen Bewegungen im Wasser auf und ab hüpfen. Ich kann es immer noch nicht so ganz glauben, dass wir tatsächlich in Einöd gestartet sind.

Ein bisschen wahnsinnig sind wir ja schon, wenn man ganz objektiv darüber nachdenkt.

Aber nur a bissle…

 

Wir nehmen die vorletzte Fähre zurück, steigen danach in den Zug nach Emden und beenden den Tag mit dem Besuch eines chinesischen Restaurants. Anschließend führen wir noch Skype-Gespräch mit einigen Missionarsfamilien in Peru. Peru… dort, wo wir jetzt eigentlich sein sollten.

Aber mit jeder Woche kommt zu der Sehnsucht und dem Gefühl von Verlust auch die Dankbarkeit dazu, in Deutschland so viele Freiheiten zu haben.

Insofern war und ist diese Radtour einfach sehr heilsam.

Eben einfach das Beste, was wir tun konnten.

 

Danke, Gott.

Vielen, vielen, vielen Dank!

Wir haben das nicht verdient, aber du beschenkst uns trotzdem so reich, dass wir es kaum begreifen können. Und am schönsten war es, dass du mit dabei warst. Dass du über jeden Witz mitgelacht, dich über jedes Loblied gefreut und jeden unserer Tritte bewahrt hast.

Bewahre bitte all diejenigen, die so etwas gerade nicht tun können.

Heile diese Welt. Schenk Frieden und Ordnung in diesem riesigen Chaos.

Danke, dass du Rettung versprichst: Über dieses Leben hinaus.

 

Amen. 

In den letzten Tagen besichtigen wir noch gemeinsam Emden und besuchen die Familie von Jannas Vater. Dort in der Nähe von Leer verbringt Janna ihren Großteil der Zeit: Seit Corona hat sie sogar eine eigene, gemütliche Hütte in dem riesigen Garten, in der wir Spiele spielen und tatsächlich noch unsere letzte Packung Gnocchis vernichten.

Louis kann dieses Festmahl (naja) leider nicht mehr genießen, da er sich bereits am Morgen nach unserem Norderney-Ausflug auf den Weg zum nächstgrößeren Bahnhof vor Wilhelmshaven gemacht hat. Trotz erneutem Platten und Sturzregen erwischte er wohl gerade noch rechtzeitig, - halb schiebend, halb rennend, - seinen Zug. Am Ende war er wohl völlig durchnässt und erschöpft, hatte aber immerhin wasserdichte Packtaschen und damit wenigstens trockene Kleidung zum Wechseln.

Für uns klingt die Fahrradtour glücklicherweise etwas ruhiger aus: Auch Leer ist auf jeden Fall einen Besuch wert, am besten gefällt mir jedoch der Badesee, der praktisch direkt vor Jannas Haustür liegt.

Das Wasser ist hier im Norden unheimlich kalt, - beinahe so kalt wie in Lucmos, dem Freibad in den peruanischen Anden, - doch in der Sonne ist es angenehm warm und der naturbelassene See wirkt an diesem Nachmittag einfach unheimlich ruhig und idyllisch.

 

Noch als ich am nächsten Morgen in meinem IC zurück nach Wernigerode sitze, bekomme ich das Lächeln trotz Maske nicht so richtig aus dem Gesicht. All die Leute, die ich wiedersehen oder neu kennenlernen durfte, die vielen schönen Orte, an denen ich war, das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit… Von all diesen Dingen werde ich auf jeden Fall noch lange Zeit zehren.

Und das ist das schöne an solchen Erlebnissen: Niemand kann etwas daran ändern, dass sie stattgefunden haben. Allein die Tatsache, dass es diese Momente in meinem Leben gab, kann mir niemand mehr nehmen. Und so Gott will werde ich mich noch lange daran zurückerinnern und meinen Enkelkindern irgendwann davon erzählen können.

 

Ich schicke noch einige Bilder in die WhatsApp-Gruppe und muss dann grinsen, als ich irgendwo im Chatverlauf auf Julians Nachricht stoße:

Hey, für unsere nächste Tour: Von Málaga ans Nordkapp.

Na, habt ihr Lust?

Eieiei. Jetzt drehen sie vollkommen am Rad.

Aber hey: Das dachte ich vor der Deutschlandtour auch.

Claro que si., ist also meine Antwort.

 

Und mal ganz ehrlich: Was auch sonst?

Mit Rucksack und Zelt unterwegs auf dem Skåneleden

12-tägige Wanderung in Schweden

2.07. [Wernigerode – Vittsjö: ~ 950km Zug/ Vittsjö – Harsjö: 8km]

 

In der Nacht vor unserem Aufbrach nach Schweden war ich natürlich mal wieder so aufgeregt, dass ich kaum schlafen konnte, doch um 7 Uhr stand ich trotzdem aktiviert, bereit und voller Tatendrang am Bahnhof. In meinem Rucksack befand sich zwar nur das Nötigste, letzten Endes vermutlich aber trotzdem viel zu viel. Vor allem viel zu viel Essen... ^^

 

Um 7:19 Uhr ging es dann auch schon los, Richtung Goslar. Bis zum Hamburger Hauptbahnhof verlief die Fahrt entspannt und planmäßig, erst danach hatten wir etwas Verspätung. Nichtsdestotrotz schafften wir es, die zusätzliche Zeit mit Essen und Kartenspielen herumzukriegen und unsere Zielstation um 20:00 Uhr zu erreichen. Schon die erste Aussicht war wirklich bemerkenswert schön. Kaum waren wir aus dem Zug ausgestiegen, erwartete uns ein idyllischer See im Abendlicht.

Die Natur wurde allerdings auch auf den ersten acht Kilometern Richtung Harsjö nicht unspektakulärer: Angenehm plaudernd schlugen wir uns durch abenteuerliche Trampelpfade und genossen dabei einen farbenfrohen Abendhimmel. Recht schnell gelangten wir anschließend an unseren ersten Lagerplatz. Wie ich es von den Naturcampingplätzen vom letzten Jahr bereits gewohnt war, verfügte jeder davon über ein Plumpsklo und mindestens eine Schutzhütte mit Feuerstelle. Nur der Waldbrandgefahr war es dann auch geschuldet, dass wir abends kein Feuer machten. Andererseits war es auch noch verhältnismäßig warm, wofür ich ebenfalls ziemlich dankbar war.

Da es mittlerweile bereits recht spät geworden, gingen wir schließlich ins Bett, erschöpft von der Reise und den letzten zwei Stunden Wanderung.

Mit Schlafbrille auf der Nase lies ich mir einige der Erlebnisse und Eindrücke nochmals durch den Kopf gehen: Das Meer war schön gewesen, obwohl ich wir es bisher nur aus dem Zug gesehen hatten und auch die Gemeinschaft. Für solche kleinen, gemeinsamen Momente war ich dankbar. Glücklicherweise schlief ich, nachdem ich mich noch etwas herumgewälzt hatte, um eine bequeme Position zu finden, recht schnell und unkompliziert ein.

 

 

3.7.  [Harsjö – Lärkesholm: 20km]

 

Ich sitze an einem wirklich wunderschönen Badesee. Das Licht fällt hier anders, irgendwie wärmer und goldener. Und das Wasser, nur ein paar Meter von uns entfernt ist tiefblau. Nach zwanzig erfolgreich zurückgelegten Kilometer gönnen wir uns gerade Nüsse und Bananenchips, bevor wir uns daran machen werden, unser Zelt aufzubauen.

Doch halt, von Anfang an:

 

Heute morgen standen wir um halb acht auf, um zu frühstücken. Letztendlich dauerte es dann noch bis um viertel neun, bis alle ihre Haferflocken mit Milchpulver erhalten hatten und noch einmal bis um halb zehn, bis wir endlich aufbrechen konnten. Die Gruppe teilte sich bald in die „schnelle“ und die „langsame“ Gruppe, was mich teilweise ein wenig stresste, weil natürlich all die, die mir besonders wichtig waren und mit denen ich gerne unterwegs sein wollte, in dem schnellen Trupp mitliefen. Ich bin mal ganz ehrlich: Das Tempo war durchhaltbar, aber nicht ganz ohne. Warum das Stratzen wichtiger war, als eine gemeinsame Pause mit allen zusammen, war mir ebenfalls ein Rätsel… 

Dafür ist die Landschaft hier wunderschön. Die grünen Wiesen sind nur ab und an von bunten Blumen, kristallklaren Seen und den für Schweden so typischen Holzhäuschen durchsetzt. Der Skaneleden führt uns darüber hinaus durch moosige, verwunschene Waldstücke, dschungelartige Felder und niedliche Siedlungen, an denen man zwischendurch sein Wasser auffüllen kann. Auch das Wetter ist viel schöner als letztes Jahr, vor allem wärmer. Und ich muss zugeben: Schweden gefällt mir wesentlich besser, wenn wirklich Sommer ist.

Beim gemeinsamen Schwimmen kann ich meine Schultern etwas entspannen und fühle mich danach sogar sauber – obwohl ich wegen des vielen Schlamms in Ufernähe vermutlich eher noch schmutziger bin als vorher...

Naja, jedenfalls gibt es gleich endlich Abendessen. Ich hoffe auch, dass mein Gespräch mit Yannick ihm helfen wird, durchzuhalten. Momenten genieße ich einfach die Gemeinschaft. Alle sitzen bunt durcheinandergemischt am Seeufer: Einige lachen und scherzen, während andere kochen oder – wie ich – in ihre Hajkbücher schreiben. Mal sehen, was der Abend noch so bringt. Da Fritz vermutlich ohnehin nichts angeln wird, könnte ich ja bald mal meine Ukulele rausholen...

 

Wir sangen noch, lauschten einer Andacht und saßen schließlich bis um zehn Uhr beisammen. Dann war Nachtruhe angesagt: Und damit das Ende eines sehr erfüllten, ereignisreichen und schönen Tages.

 

4.07.  [Lärkesholm – Bjärabygget: 13 km]

 

40 Kilometer haben wir jetzt insgesamt geschafft. Das jedenfalls sagt ein Wegweiser direkt vor der Schutzhütte, in der wir es uns momentan, in Bjärabygget angekommen, zu neunt bequem gemacht haben. Einige liegen auf Isomatten herum, andere auf den Leuten auf den Isomatten und tja, - wieder andere – also ich – schreiben Tagebuch und essen Schokobrötchen.

Heute gingen wir bereits vor dem Frühstück los, um schon etwas Strecke zu schaffen. Nachdem wir durch ein mystisches und unheimlich moosiges Waldstück marschiert waren, setzten wir uns an einen See, um unsere Haferflocken mit Mandeln zu essen. Das Wetter war gut, der weiche Boden sowohl zum Laufen als auch zum Sitzen wirklich angenehm und die Stimmung nach erfolgreicher Nahrungsaufnahme sehr gut.

Nach dem Frühstück wanderten wir auf abenteuerlichen Brücken und Holzplanken zu einem Dorf mit Netto, Post und ICA, um Nahrungsmittel nachzukaufen. Wichtig war das vor allem, weil sie für die nächsten drei Tage ohne Einkaufsmöglichkeit reichen mussten. So viele Lebensmittel auf einem Haufen zu sehen, war an sich schon ein tolles Gefühl, vor allem, weil mir Andreas eine Banane sponserte (Wer hätte gedacht, dass ich mich so über eine Banane freuen könnte...?) und später allen ein Vanille-Eis ausgab. Ich gehörte zu denjenigen, die das Essen aussuchten und freute mich bereits beim Zusammensammeln auf die Marabou-Schokolade und die Zimtschnecken.

Nach dem Einkauf stärkten wir uns im Schaden des Geschäfts mit frischem Obst und Knäckebrot und gingen anschließend zügig weiter, Richtung Lagerplatz. Diejenigen, die zu schwer gepakct hatten, hatten außerdem Gepäck nachhause schicken dürfen, sodass sie nun ein wenig besser durchhielten, selbst, obwohl wir zusätzlich auch noch das eingekaufte Essen hatten aufteilen müssen. Mich störten nur die Mückenstiche ein wenig, die ich mir vermutlich in einem etwas sumpfigen Waldstück zugezogen hatte und die recht schnell auf bedenkliche Größe anschwollen. Ansonsten fühlte ich mich rundherum zwar etwas schmutzig, aber darüber hinaus größtenteils wohl.

 

 

Vor allem die gemeinsamen Werwolfrunden, der Gemüsereis und schöne Andachten in diesmal etwas kleineren Gruppen sorgten dafür, dass selbst die Fliegenarmeen auf der Toilette erträglich waren. Diese Nacht ging ich recht früh ins Bett und hatte erstmals einigermaßen Platz, weil der Rest der Katzenadler-Sippe die Nacht unter dem Shelter verbrachte. Allerdings war es deshalb auch ein wenig kälter als sonst.

 

5.07. [Bjärabygget – Koarp: 17km]

 

Nachdem wir eine Tasse Tee oder Kaffee getrunken hatten, machten wir uns so früh wie möglich auf den Weg Rechtung Koarp. 16,4 km lagen diesmal vor uns, von denen wir ungefähr fünf bis sechs bereits vor dem Frühstück zurücklegten. Der Himmel war bedeckt und die Temperatur infolgedessen etwas kühler, zum Wandern allerdings genau richtig.

Direkt am Rand eines Himbeerfeldes veranstalteten wir dann unsere Frühstückspause: Diesmal mit Banane (in meinem Fall), Rosinen oder Kakao – und eben Himbeeren für diejenigen, die genug Energie zum Sammeln und nur wenig Angst vor Fuchsbandwürmern hatten. Generell fanden wir an diesem Tag noch ziemlich viel Obst am Wegesrand: Darunter Blaubeeren, Johannisbeeren und Kirschen; alles ein großes Geschenk von Gott.

Auch der Weg selbst war ein solches Geschenk: Wir gingen durch Naturreservate, in denen uns Schafe erfolgten, kraxelten über Hügel oder passierten Felder, die von niedrigen Steinmauern umgrenzt und teilweise von weiteren Ruinen durchsetzt waren. So langsam war man nun, am vierten Tag, auch soweit eingelaufen, dass man die zurückgelegten Kilometer kaum noch als solche wahrnahm, - zumindest ging es mir so. Vielleicht lag das allerdings auch an den angenehmen Gesprächen, die ich nebenbei mit Peter und Friedrich über Bücher oder mit anderen Leuten über die Zukunft und damit zusammenhängende Träume führte. 

 

Als wir abends nach einer großen Portion Nudeln mit Pesto nebeneinandersaßen, Lobpreislieder sangen und diese auch gemeinsam begleiteten, dankte ich wieder einmal Gott dafür, dass er mir solche Freunde an die Seite gestellt hatte.

Obwohl ein paar Leute von Wespen gestochen worden waren, war die Stimmung sehr gut und wir sangen bestimmt zehn Lieder, bis Marie und Heidi uns dazu aufforderten, uns langsam bett- (bzw. Isomatten-)fertig zu machen. Respekt hatte ich diesbezüglich vor allem vor Justin, der völlig ohne zu jammern nicht nur an einem Tag Yannicks Gepäck getragen hatte, sondern nun auch noch steinhart durchzog, ohne auf seine SIEBEN Wespenstiche zu achten.

Aber auch die anderen Waldkäuze waren wirklich tapfer. Wie gut, dass wir an dem Lagerplatz allesamt mit fließendem Wasser belohnt wurden, mit dem man kochen – und sich vor allen Dingen auch endlich einmal waschen konnte.

 

Wieder etwas sauberer gingen wir an diesem Tag ins Bett. Zuvor hatten Fritz, Peter, Friedrich, Hanna und ich aber noch viel Spaß dabei, sich über mich und meine Nase(n) lustig zu machen. Naja, wie dem auch sei: Wir lachten so viel, bis ich Bauchschmerzen hatte. Aber das war es alle Mal wert.

 

6.07.  [Koarp – Brammarp: 17 km]

 

Momentan sitzen wir auf der Holzbrücke, die auf einem phänomenalen Lagerplatz über einen Fluss führt. Die Fische darin sind so zahm, dass sie wie im Wellnessurlaub an den Füßen knabbern und sich per Hand füttern lassen. Außerdem gibt es hier zusätzlich zu dem Shelter tolle Sitzgelegnheiten, wunderschöne Blumen und Bäume und eine wirklich hygienische Toilette, auf der man sich sogar die Hände waschen kann! (Wow, was für ein Luxus ^^)

Mit Schokolade, Nüssen, Zimtschnecken, Knäckebrot und mal wieder reichlich Himbeeren versorgt, kommen wir ganz gut über den Tag.

 

Hanna und ich waren diesmal extra früh aufgestanden, um uns die Haare zu waschen, sodass ich mich nach meinem gestrigen Waschgang endlich wieder richtig sauber fühlte. Nach einem reichhaltigen Frühstück gingen wir dann auch „schon“ los; diesmal bei ähnlichem Wetter durch ebenfalls ähnliches Gelände.

Die Highlights auf dem Weg waren dabei die Snacks in Form von Nüssen und Schokolade, aber auch Etappen durch moorartige Gebiete, in denen ich mal Zeit hatte, schweigend vor mich hinzutrotten und etwas zur Ruhe zu kommen. Gleichzeitig genoss ich dann aber auch die späteren Gespräche mit Friedrich und Hanna sehr. Leider wurden auch diesmal einige Leute von Wespen gestochen; allerdings waren es glücklicherweise viel weniger als den Tag zuvor. 

Obwohl der Lagerplatz dieses Mal direkt an der Autobahn lag, so war man zwar nicht länger lärm-, aber durch ein schönes Birkenwäldchen immerhin sichtgeschützt. Wir aßen Zimtbrötchen und Schokolade und Peter und ich hatten zusätzlich etwas Zeit für uns, die wir allein im sonnenbeschienenen Moos verbrachten.

Es war vielleicht etwas unnötig, dass Friedrich einen der winzigen Fische fing, über dem Feuerzeug briet und dann ungesalzen verspeiste, ansonsten gab es an dem Tag jedoch nicht viel zu bemängeln.

 

Um zehn Uhr gingen wir wie immer recht erschöpft zu Bett, dieses Mal erstmals in der Schutzhütte selbst. Erstaunlich war dabei, dass ich kaum fror, von Mückenstichen und Rückenschmerzen verschont blieb und durch die Ohropax nicht viel von dem Autobahnlärm mitbekam.

 

7.07.  [Brammarp – Norrviken Camping: 19km]

 

Der Tag heute war unheimlich schön.

Vermutlich werde ich aber erst später darüber schreiben; nämlich dann, wenn unsere gemütliche Abendrunde auf einem Ausguck direkt am Meer vorbei ist. Ich sitze neben Peter, während uns gegenüber das Sonnenlicht so durch eine Wolkendicke bricht, dass es sich in mystischen Strahlen die Wasseroberfläche entlang zu tasten scheint. Doch von Anfang an:

 

Um unser Wasser aufzufüllen, liefen wir am Morgen zunächst einmal über abermals verschlungen waldige Pfade zu einer Tankstellen deren Restaurant ich schnurstracks am reichhaltigen Frühstücksbuffet vorbei und stattdessen zum Wasserholen auf die Toilette laufen musste. Danach führte uns ein schmaler Weg zu einigen Brombeerfeldern, in denen wir schließlich Rast machten, um unser Frühstück zu uns zu nehmen. Auch wenn ich meine Zeckenphobie inzwischen längst abgelegt hatte, so muss ich doch leider zugeben, dass mich der Gedanke an Fuchsbandwärmer doch noch so sehr abschreckte, dass ich auf die Himbeeren verzichtete und stattdessen mit Rosinen vorlieb nahm. Dennoch ausreichend gestärkt ging es dann bei gutem Wetter durch ein landschaftlich wirklich wunderschönes Moor- und Sumpfgebiet. Holzplanke reihte sich hier an Holzplanke und ich konnte mir gut vorstellen, dass man in weniger trockenen Monaten tatsächlich nicht ohne ihre Hilfe vorankommen konnte. Auch viele Farne, Büsche und Stärucher gab es hier, außerdem einige Wildblumen, die sich optisch perfekt in das landschaftliche Gesamtbild eingliederten. Anschließend wechselte das Landschaftsbild.

Je höher wir kamen, desto kühler und unstiger wurde es, bis wir auf einer Hügelkupe schließlich zum allerersten Mal das Meer sehen konnten, das am Horizont beinahe vollständig mit dem ebenfalls grauen Himmel verschwamm. Es war wirklich ein beeindruckender Moment. In dem ICA in Båstad kauften wir nach einer Schokopause das Nötigste für den Abend und den nächsten Morgen bis Mittag. Anschließend hielten wir auf Bänken direkt am Meer eine ausgiebige Snack- und Brotpause ab, während um uns herum die Fußball-Fans dem Viertelfinale ihrer Nationalmannschaft entgegenfieberten. Es ist wirklich unglaublich, wie gut ein frischer Laib Brot schmecken kann, wenn man dabei salzige Meerluft atmet.

 

6 Kilometer später, die wir bei Sonnenschein an Hafenmole und Meereküste entlangwanderten, erreichten wir den Campingplatz Norrviken Camping, der ebenfalls direkt am Meer gelegen war. Dort konnten wir nicht nur von einem Steg aus Baden gehen und auf einer schiwemmenden Plattform herumtoben, sondern vor allem warm duschen und unsere durchgeschwitzte Kleidung waschen. Danach fühlte ich mich sauberer und wieder etwas mehr wie ein normaler, zivilisierter Mensch. Erfrischt und erholt genossen wir dann auch ein leckeres, reichhaltiges Abendessen in Form von Wraps mit Gemüse, Käse, Wurst, Röstzwiebeln und Soßen. Selbst unsere größten Jungs (Fritz, Peter und Kilian) wurden ausnahmsweise einmal fast satt.

 

Da die Zelte bereits aufgebaut worden waren, gingen wir anschließend zur Steinküste, um Lieder zu singen und mit tollem Ausblick die Schlacht zwischen David und Goliath nachzustellen. Nein, keine Sorge: Es wurde niemand ernsthaft verletzt; auch Fritz alias Goliath nicht. Abschließend wurde noch Werwolf gespielt, während Hanna, Friedrich, Fritz, Peter und ich ans Meer gingen, um im Licht der untergehenden Sonne Bottleflips zu üben. Die Dämmerung malte traumhafte Farben an den Himmel und ich genoss es, mit Hanna ausgelassen zu schaukeln und Peter und Friedrich dabei zu beobachten, wie sie lachend auf einem Trampolin herumtobten. (Manchmal ist es okay, sich wie ein kleines Kind zu verhalten, schätze ich… ^^)

 

Wie gesagt: Es war ein wirklich toller Tag.

 

8.07. [Norrviken Camping – Torekov: 17 km] 

 

Ich bin glücklich. Und zwar nicht nur, weil sich der Schwedenhajk so langsam aber sicher in einen Strandurlaub zu verwandeln scheint, sondern auch, weil rundherum wirklich alles passt: Selbst die Sachen, die am Anfang nicht geklappt haben, hat Gott dann schließlich doch passend gemacht.

Manchmal frage ich mich, ob man, wenn man das hier als Unbeteiligter liest, ein völlig falsches Bild von meinem Charakter bekommt. Ich bin nicht so geduldig und glaubensstark, wie ich in diesem Tagebuch vielleicht des öfteren wirke. Ich schreibe ja nicht jede Angst auf, - keinesfalls jedenfalls jeden Fehler, jede Gereiztheit, und jeden vorschnellen und ungerechten Satz. Es ist Gott, der meine Tage gut macht und mich ihm hoffentlich irgendwann ähnlicher macht. Heute morgen beispielsweise war ich ziemlich hungrig und dementsprechend schlecht gelaunt: Ich frotzelte herum und nervte und wäre stattdessen doch viel lieber produktiv, konstruktiv und hilfsbereit gewesen. Ohne, dass ich überhaupt darum gebeten hatte, überraschte mich Gott unterwegs dann mit kleinen Geschenken am Wegesrand: Saftigen Kirschen, die mich dazu in die Lage versetzten, die ersten zugegebenermaßen recht anstrengenden sechs bis sieben Kilometer zu schaffen, meine Laune hoben und an eine Steilküste mit grandiosem Meerblick schließlich mein Frühstück versüßten. Die Aussicht war allerdings den ganzen Tag über wirklich phänomenal. Wir wanderten über sanfte Hügel, während um uns herum das azurblaue Meer lediglich vom Horizont begrenzt wurde. Ab und an sah man eine Möwe und später an der Küste einige Schafe und Kühe. Untermalt wurde die Landschaft von Kirschbäumen und vielen Blüten, die sich dann wieder mit kleinen, niedlichen Bootshütten in den unterschiedlichsten Farben abwechselten. Ich redete viel mit Maria und später Yannick, der sich wirklich über mein Angebot, mal gemeinsam zu beten, zu freuen schien.

 

Am Shelter angekommen sahen wir schon von weitem das Meer, das man diesmal sogar über einen langen, angenehmen Sandstrand erreichen konnte. Da wir verhältnismäßig früh angekommen waren, konnten wir recht bald nach der Mittagspause und dem Zelteaufbauen baden gehen. Überraschenderweise war das Wasser sehr warm und das Schwimmen mit Hanna, Kili, Luise, Justin und Maria machte viel Spaß. Einmal zog ein Schwarm Möwen ganz dicht über die Wasseroberfläche, zusammen mit dem strahlend blauen Himmel, der Sonne und dem Strand und den Segelschiffen etwas weiter entfernt ein Bild der puren Erholung. Anschließend lagen wir im warmen Sand und fühlten uns allesamt – ungelogen – wie im Sommerurlaub.

Nach einer wirklich eiskalten Dusche (in einer gruseligen Kammer ohne Fenster) sah ich dann, dass man mir vom Einkaufen einen Früchtesmoothie und zwei Äpfel mitgebracht hatte. Diese kleine Aufmerksamkeit machte mich unheimlich glücklich und dankbar – und als es zum Abendessen dann frisches Gemüse, Köttbollar, Kartoffelbrei und Preißelbeermarmelade gab, war mein Abend essenstechnisch gerettet.

Die Andacht hielten wir diesmal an einer Stelle, die etwas weiter vom Meer entfernt war, an der man mit Meerblick aber trotzdem in der Sonne saß.

 

 

Als die Sonne langsam tiefer sank und alles in goldgelbes Licht tauchte, gingen Andreas, Sebastian und Heidi mit Hanna, Kilian, Peter und mir nach Torekov, ein kleines, niedliches Dörfchen mit einem wunderschönen Hafen. Das Abendlicht durchflutete malerische enge Gassen und begleitete uns, während wir zwei Kugeln Eis genossen. Neben den anderen fühlte ich mich wie im Sommerurlaub, es war einfach wunderschön, das alles gemeinsam erleben zu können. Mit keiner anderen Gruppe wäre ich in diesem Moment lieber im Sonnenuntergang die Strandpromenade entlangspaziert.

 

9.08. [Torekov – Vejbystrand: 17 km]

 

 

 

Wer hätte gedacht, dass ich mir auf diesem Hajk einen Joghurt mit Haferflocken, Bananen, Äpfeln und Rosinen zum Frühstück machen kann? Heute morgen, als wir an einem ziemlich coolen Bunker mit Graben, Massengräbern und weit ins Meer hinausreichenden Befestigungsanlagen Rast machten, tat ich genau das: Ich genoss eine riesige, sättigende Portion Obstmüsli. Der Himmel war abermals wolkenverhangen, das Wetter zusätzlich jedoch erstmals so windig, dass wir im Gegensatz zum gestrigen Tag auch eine ganz andere, rauere Seite der Nordsee erleben durften.  Mystisch spannte sich der graue Himmel über der Gischt der windgepeitschten See auf, während auf dem Teich in unserer etwas windgeschützteren Bucht riesige, rote Seerosen trieben.

Es machte Spaß, bis auf die vordersten Steine der Mole hinauszuklettern und sich den Böen, die an den Haaren zerrten und der salzigen Luft auszusetzen, die sich auch darüber hinaus überall festzusetzen schien.

Frisch gestärkt und gut erholt gingen wir dann weiter, immer ganz nah am Meer entlang. Von den 17 Kilometern der Tagesetappe hatten wir um etwa zwanzig nach zwölf bereits 10km zurückgelegt, fünf davon waren wir ja – den Einkauf beim ICA mit eingerechnet – bereits vor dem Frühstück gegangen. Nach der Mittagspause, in der wir über Aufklärung und Reformation sprachen (jaja, diese Gymnasiasten ^^) mussten wir dennoch ein weiteres Mal einen Dorfladen aufsuchen, um fürs Abendessen einzukaufen. Besagter Laden war im Gegensatz zu den ICAs wirklich süß: Es gab von allem nur das Nötigste in geringer Auswahl und draußen vor dem „Shop“ gemütliche Sitzgelegenheiten mit Blick auf einen Fußballplatz.

Der Shelter, den wir nach 3 weiteren Kilometern erreichten, liegt diesmal in dem einzigen Waldstück weit und breit und ist von Campern offensichtlich gut besucht. Das tut der Schönheit dieses Fleckchens Erde allerdings keinerlei Abbruch. Vorhin haben Hanna, Luise und ich zwei alte Bunker erkundet und nun sitze ich mit Peter am Strand und genieße den Sonnenschein, der wieder herrscht, seit sich auch die letzten Wolken verzogen haben. In einiger Entfernung krächzen auf einer Vogelschutzinsel (vermutlich) seltene Exemplare um die Wette, wir werden von Schmetterlingen umschwirrt – eben ist sogar einer auf diesem Heft gelandet! - und ebenfalls nicht weit entfernt bricht sich das Sonnenlicht in Form von hundert funkelnden Edelsteinen auf der Wasseroberfläche. „Selbst die Mückenstiche gehören irgendwie dazu!“, meint Peter, - und er hat Recht. Momentan schreiben wir beide ein bisschen vor uns hin, gleich sollte es allerdings auch schon Abendbrot geben – trotz der Sonne, die noch so hoch steht, dass man leicht zu dem Trugschluss kommen könnte, es sei erst Nachmittag.

 

 

Nach ein paar Runden Werwolf und einem grandiosen Abendessen (meine Portionen Nudeln werden echt immer größer; gemeinsam haben wir ganze 3kg weggemacht!) setzten wir uns am Strand in die Dünen, um noch etwas zu singen und mehr über David zu erfahren. Selbst ich hörte an diesem Abend eine Geschichte, die mir vorher noch unbekannt gewesen war. Generell waren die Input-Themen in Anwendung, Theorie und Jesus-Bezug immer sehr gut abgestimmt. Dennoch merkte ich recht bald, dass ich doch recht müde war und mir die heutigen Kilometer nicht nur in den Knochen steckten, sondern auch meine Nerven ein wenig beeinflussten. Dementsprechend froh war ich dann auch, als ich mich durch die Ukulelen-akkorde gequält und meinen Keks-Nachtisch verdrückt hatte. Sich lang auf der Isomatte auszustrecken, tat wirklich gut...

 

10.07. [Veybystrand – Ängelholm: 20km]

 

„Bald geht das Luxusleben wieder los!“, hat Luise gestern gesagt, doch wenn ich ganz ehrlich bin, dann finde ich, dass wir jetzt schon in Saus und Braus leben. Das leckere Essen, die wirklich immer !harmonische! Gemeinschaft, die grandiose Aussicht, die viele Zeit zur Entspannung... Das alles ist mehr, als ich sonst genießen darf. Aber weiter im Text:

Der Morgen begann so sonnig, dass wir das Meer schon wieder in einer völlig neuen Stimmung erlebten. Abermals genossen wir den Blick auf das leuchtend blaue Wasser und den Wind, der uns sanft und erfrischend kühl um die Arme strich. Schweden ist hier so gemütlich: Überall grasen Kühe, Pferde und Schafe mit ihren Jungen in aller Seelenruhe, ohne sich von den Menschen ablenken oder stören zu lassen. Auch ich bin hier deutlich zur Ruhe gekommen, einfach, weil ich so gut geschlafen habe und nichts wichtiges organisieren und erledigen muss. Ich lebe einfach einen Moment nach dem anderen: Wenn ich gehe, dann gehe ich, wenn ich esse, dann esse ich, wenn wir das Zelt aufbauen sollen, dann tun wir eben das... und nicht 1000 Dinge gleichzeitig. Das entspannt wirklich zutiefst.

 

Nachdem wir uns bei dem ICA abermals mit Frühstücksproviant eingedeckt hatten, veranstalteten wir auf einer Aussichtsplattform mit Meerblick eine wunderschöne Frühstückspause. Segelboote und Möwen am Horizont waren die perfekte Zutat zu meinem Feigen-, Bananen- und Apfeljoghurt und ließen ihn trotz der Gammeldagsmilch, die ich mir mit Heidi teilte, gleich doppelt so gut schmecken.

Heute führte uns der Weg durch teilweise urwaldähnliche Strandgebiete. Durch Farne und zu Blätterdächern verwachsene Bäume konnte man nur ab und an einen Blick auf die Nordsee erhaschen, allerdings war es ohnehin sehr viel wichtiger, bei den ganzen Wurzeln, Steinen und Holzstegen auf den Weg zu unseren Füßen zu achten.

Wir kamen zügig voran, sodass wir bereits um die Mittagszeit herum einen Campingplatz in Ängelholm erreichten. Weil einige Leute schmerzende Füße hatten, überlegten wir zunächst, eventuell dort zu übernachten, doch der Platz war eng und nicht wirklich schön, weshalb ich letzten Endes ganz froh darüber war, dass wir zwar eine lange Mittagspause am Strand einlegten, aber trotzdem beschlossen, noch 5km weiter bis zu einem extra für uns reservierten Gemeindehaus in der Innenstadt zu gehen. Der Strand war wirklich schön und – vielleicht, weil es mittlerweile mal wieder bewölkt war – nicht zu überlaufen. Auch an das kühle Wasser gewöhnte man sich recht schnell , - was Hanna und Peter allerdings nicht davon abhielt, beim Hineinwaten ein ziemliches Theater zu veranstalten... ^^. (Das schlimmste Theater machte anschließend dann jedoch ich, als sie meine Haare nassspritzten. Das muss ich mir heute noch anhören…)

Ich hatte viel Spaß beim Baden und obwohl wir uns ein wenig ausgetobt und beim weiter Hinausschwimmen verausgabt hatten, fühlte ich für meinen Teil mich eher erholt und ausgeruht, als ich wieder aus dem Wasser kam. Frisch geduscht und angezogen genoss ich dann gemeinsam mit den anderen eine leckere Mittagspause. Wieder einmal hatte ich das Gefühl, dass es nichts Besseres geben konnte, als frisches, dunkles Brot. Zwischendurch begann es kurz mal ein wenig zu tröpfeln, doch als wir wenige Minuten später alle ein Eis in einer Riesenwaffel erhielten, hatte es bereits wieder aufgehört. Ich spiele übrigens mit dem Gedanken, mir in Zukunft öfter mal ein Schokoladeneis zu bestellen. Das war diesmal wirklich unerwartet lecker.  

Mit dem Eis in der Hand schlugen wir uns ein letztes Mal durch ein ruhiges, idyllisches Waldstück.

 

Erfrischt, sauber und energiegeladen war ich wirklich unheimlich dankbar und glücklich. Es gab nichts, was mir wehtat und ich hatte mich weder verletzt noch in irgendeiner Form erkältet. Die Dankbarkeit steigerte sich ins schier Unermessliche, als wir in Ängelholm nach dem Einkaufen eine Pizzeria aufsuchten, in der die Familienpizzen einen Durchmesser von ungelogen 75 cm hatten. Und ja, kein Scherz, es gab durchaus Leute, die diese Familienpizzen zu zweit bewältigten.

Ich für meinen Teil war im Gegensatz dazu ja schon stolz darauf, eine ziemlich große „normale“ Pizza geschafft zu haben. Andererseits wird der Magen mit der Zeit vermutlich einfach größer, wenn man ständig Hunger hat. Er wächst sozusagen an seinen Herausforderungen, wie Heidi es ganz treffend formulierte. Trotzdem fühlte ich mich danach ziemlich vollgestopft und überfressen. Was für ein Luxus nach dieser Zeit!

Auf den letzten 1,8km wurden wir dann noch von einem milden Sommerregen überrascht, der uns eher noch dankbarer für das dauerhaft schöne Wetter machte, das wir die letzten Tage über hatten genießen dürfen. Und so waren die Regenjacken und Ponchos wenigstens nicht vollkommen sinnlos mitgeschleppt worden... Anstatt herum zu jammern hielt ich mein Gesicht in den Wind und genoss die kühlen Tropfen, die meine Haut benetzten.

Ziemlich spektakulär war allerdings, dass der hintere Pfadfindertross noch Zeuge eines Motorradunfalls wurde. Direkt vor Hanna und mir verlor ein Motorradfahrer auf der nassen Straße so plötzlich die Kontrolle über das Fahrzeug, dass er es nicht mehr schaffte, sich auf der Maschine zu halten und stattdessen mehrere Meter über den Asphalt schlitterte. Funken sprühten über den Boden und ich dachte schon, es sei etwas Furchtbares passiert, als Peter auch schon an mir vorbeisprintete, um dem Fahrer zu helfen. Erst, als das Motorrad samt dem offensichtlich nicht allzu schwer Verletzten in einer nahegelegenen Werkstatt untergebracht war, konnten wir uns alle wieder etwas entspannen. Der Regen hatte nicht nachgelassen, war aber auch noch nicht sonderlich stärker geworden, als wir das sehr moderne Gemeindegebäude der EFS Kyrkan erreichten. Dort wurden wir herzlich von der Kindermitarbeiterin in Empfang genommen, die uns auch gleich in dem Haus herumführte. Dieses war geräumig und mit viel Liebe fürs Detail eingerichtet. Zusätzlich zu großen Gemeinde-, Speise- und Jugendräumen verfügte es über viele Kinderräume, eine Turnhalle und sogar einen Fernseh-Technik-Raum.

In dem modernen Jugendraum veranstalteten wir in einer gemütlichen Sofa-Sitzecke unsere finale Abschlussrunde. Jeder äußerte im Rückblick unheimlich viele Dinge, für die er dankbar war, sodass ein großer Haufen an schönen Erinnerungen noch einmal sehr viel präsenter wurde. Niemand hatte sich ernsthaft verletzt, niemand hatte mittendrin nach Hause gewollt... Nicht einmal einen Lagerkoller hatte es gegeben.

Ich genoss das Beisammensein mal wieder sehr. Über die vergangenen neun Tage hinweg hatte man jeden Teilnehmer ein bisschen besser kennen- und schätzen lernen können: Mit seinen Stärken und Schwächen. Niemand war ausgeschlossen und jeder auf seine Art und Weise akzeptiert worden und am erstaunlichsten fand ich es, dass unsere hilfsbereite Gruppe sich bei der Essensverteilung oder bei anderen Aufgaben regelrecht darum geprügelt hatte, mithelfen zu dürfen.

Auch die anschließende Lobpreiszeit war schön. Zwar spielte ich die Ukulele nicht immer perfekt, schaffte es aber zumindest, ein gemeinsames und meist recht rhythmisches Singen zu ermöglichen. Außerdem machte ich es letzten Endes ja nicht für mich, sondern für Gott.

Anschließend gab es noch eine ziemlich bewegende Gebetsrunde, in der wirklich fast jeder der Pfadis Kilian, Peter und Fritz für ihre Zukunft nach dem Abitur das Allerbeste und Gottes Segen und Bewahrung wünschten. Nicht nur die Gebete der abgehenden Turmfalken sondern auch die derjenigen, die vor ihrer Zeit bei den Pfadis überhaupt nichts mit Gott am Hut gehabt hatten, waren sehr berührend. An so etwas sieht man meiner Meinung nach wirklich, dass all der Einsatz der Mitarbeite aber auch der fleißigen Beter im Hintergrund tatsächlich etwas bringen.

 

Alles in allem war der Abschluss im Warmen sehr gelungen - , selbst, obwohl ich seltsamerweise sehr viel schlechter schlief als einige Nächte zuvor in unserem Zelt. Andererseits fehlte mir jetzt vielleicht einfach die frische Luft und der abendliche Gesang der Vögel.

 

11.07. [Ängelholm – Wernigerode: ~ 900km Zug]

 

Selbst an unserem Abreisetag scheint die Sonne. Heute morgen frühstückten wir noch gemeinsam im wunderschönen Gemeindespeisesaal, wobei es diesmal Yannick war, der das obligatorische „I wanna thank you“ anstimmte. Achja... Was würde ich dieses Milchpulver-Müsli vermissen... ^^

 

Anschließend brachen Hanna, Peter, Heidi und ich schon etwas früher auf, um uns bei dem ältesten noch existierenden Bäcker Schwedens mit leckerem Brot und Proviant für die Rückfahrt einzudecken. Wirklich toll war, dass es viele Häppchen zum Probieren gab, die mir zusammen mit dem schönen Stadtbild den Morgen versüßten. „In solchen Gegenden darf man nicht nur auf die Straße achten, sondern muss auch die Läden und vor allem die Menschen ansehen.“, sagte Peter zum Beispiel, was mich ein wenig daran erinnerte, wie er am Montag bemerkt hatte: „Das ist doch ein schönes Bild, wie Kinder auf einem Bunker spielen, oder? So sollte es sein.“ Ich dachte darüber nach. Vielleicht hatte ein Bunker als Spielplatz einen wesentlichen schöneren Verwendungszweck gefunden, doch allein die Tatsache, dass er überhaupt existierte, zeugte von einer schlimmen Vergangenheit und der Bosheit, die in uns Menschen schlummerte.

Naja, wie dem auch sei. Jetzt sitzen wir erstmal im Zug nach Kopenhagen, wo es möglicherweise noch einen Luxus-Kaffee von dem Restgeld geben wird. Die Landschaft rast ungewohnt schnell an uns vorbei und noch etwas ist ungewohnt: Ich trage tatsächlich mal wieder ein sauberes T-shirt.

 

Während der restlichen Fahrt spielten wir viel Karten, erzählten und verließen zwischendurch auch mal den Zug, weil dieser auf eine Fähre auffahren musste. Dort sahen wir den Möwen zu und ließen uns den Wind um dieNase wehen. Ich kam aber auch zum Schreiben (wie man liest) und vertrieb mir die Zeit unter anderem damit, Spielkarten mit Motiven unserer Wanderung zu bemalen.

Die Jungs nebenan spielten währenddessen ein Pen&Paper, das Peter in den etwas ruhigeren Momenten des Schwedenhajks vorbereitet hatte.

Wie passend, dass das Wetter erst in Deutschland schlecht wurde, als wir den Sonnenschein und die Wärme nicht mehr benötigten. 

 

Am Bahnhof angekommen hielten wir unseren Abschiedskreis wegen eines drohenden Gewitters etwas hastiger als gewöhnlich ab und ich war bereits in diesem Moment wirklich traurig, dass diese tolle Zeit nun vorbei sein sollte... Aber gleichzeitig war ich natürlich auch froh darüber, dass es sie gegeben hatte… Traurig über ihr Ende zu sein, ist da wohl eher ein Luxusproblem.