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Vom ganz normalen Wahnsinn...

(Oder Zumindest darüber, was "Normal" in meinem Fall bedeutet)

15.11.

Heute ist Sonntag (obviously) und ich habe mich bereits jetzt dazu entschieden, am Sonntag nicht zu lernen und mir an diesem Wochentag eine Auszeit von meinem Studium zu gönnen. Wenn Gott diesen Ruhetag für uns Menschen eingeführt hat, dann vertraue ich ihm einfach, dass er sich etwas dabei gedacht hat. Es ist eines dieser Gebote, die gut für uns sind und die man einfach ausprobieren muss, um den wirklichen Zweck für das persönliche Leben zu entdecken. Deshalb bedeutet das griechische Wort für Glaube wohl auch „gelebtes Vertrauen“: Wenn ich Gott glaube, dass er mein Bestes will, dann gehe ich im Vertrauen darauf Schritte – und entdecke in der Konsequenz oder vielleicht auch erst im Rückblick, dass es sich gelohnt hat.

 

Für mein Abitur scheint das jedenfalls offensichtlich auch geklappt zu haben…

Gleichzeitig bemerke ich jedoch schon jetzt, dass mir das gar nicht so leicht fällt und es mich in den Fingern juckt, mir die ganzen Vorlesungsvideos doch schon anzusehen, wenn die Studienkollegen in den Whatsapp-Gruppen darüber diskutieren, ob die Biologie-Vorlesungen jetzt doch nur aus den Folien oder auch den dazugehörigen Video-Streams („Welche Video-Streams?!“) bestehen.

Natürlich letzterem, die Ärmsten…  

 

Nun ja, jedenfalls sitze ich deshalb gerade mit Latte Macchiato und frischgebackenen Muffins nach einem erfolgreich absolvierten Work-Out zufrieden an meinem Schreibtisch und freue mich darüber, dass Sonntag ist. (Dieses abendliche Kaffeetrinken wird allmählich zur ungesunden Gewohnheit, mein Tagesrhythmus ist mittlerweile so verschoben, dass ich bisweilen besorgt innehalte und das Gefühl habe, so langsam aber sicher die Kontrolle über mein Leben zu verlieren. Upps. Aber hey: Immerhin koche ich mir überhaupt etwas selbst. ^^)

Natürlich habe ich mir am Anfang des Tages mal wieder viel zu viel Dinge vorgenommen, die man ja machen könnte (Dekorieren, Lesen, Malen, Schreiben, Bloggen, Musizieren, Streichen, Kochen, Backen, Sportmachen, Telefonieren, Online-Gottesdienst anschauen, Weihnachtsgeschenke vorbereiten, …) und bin letzten Endes dann „lediglich“ zu ein paar dieser Vorhaben gekommen. Das war jedoch auch völlig in Ordnung – und vermutlich besser so. Statt mich also von meinem wie immer so übereifrigen Unternehmungsgeist vor den Karren spannen zu lassen, ging ich nach dem Gottesdienst im strahlenden Sonnenschein an der Lahn spazieren, telefonierte währenddessen mit einigen Freunden (zum Beispiel Julian, Luise und Pauline, was mir wirklich sehr gut tat) und las viel in einem Roman, den ich mir vor ein paar Tagen gebraucht beim Herumstöbern in den Marburger Gassen gekauft hatte. Auch wenn er für meinen Geschmack eindeutig ein paar Nuancen zu schnulzig war und ein furchtbares Ende besaß (wieso müssen immer alle Protagonisten sterben?), war es dennoch heilsam, sich zu entspannen und einfach einmal die Seele baumeln zu lassen. Vor allem nach den Strapazen der letzten Woche:

 

Zusätzlich zu den Vorlesungen und Seminaren hatte ich am Mittwoch noch einen Termin beim Bürgeramt, um mich ummelden zu lassen. Der Tag hatte eigentlich völlig normal begonnen, doch im Rückblick betrachtet begann er sich ab genau dem Zeitpunkt zu einem Albtraum zu entwickeln, in dem ich meinen Bus verpasste. Ich hatte an der falschen Station derselben Bushaltestelle gestanden (dieses System soll einer verstehen!) und war zunächst einmal wie schockgefroren. Mehr als einen entschuldigenden Blick hatte der Busfahrer auch nicht für mich übrig, sodass ich keine andere Wahl hatte, als kurzentschlossen in Richtung Bahnhof los zu sprinten. Der nächste Bus würde erst in einer halben Stunde kommen, doch ich wusste, dass ich am Bahnhof ohnehin hätte umsteigen müssen und hatte die vage Hoffnung, mit viel Glück auf dem Weg noch einen anderen Bus zu bekommen und es rechtzeitig bis zum geplanten Umstieg zum Bahnhof zu schaffen. Ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen, ich weiß…Tatsächlich erwischte ich an der nächsten Haltestelle jedoch noch eine Linie in Richtung Hauptbahnhof, holte meinen verpassten Bus ein und hastete völlig außer Atem ins Wageninnere. Den Blick des Busfahrers konnte ich wegen der Maske leider nicht so richtig deuten, aber ich verwette meine Marmormuffins, dass er nicht damit gerechnet hatte, dass ich ihn noch einholen würde. HA! Der hat seine Rechnung auf jeden Fall ohne Elena Kemmann gemacht. Wenn man so verpeilt ist, wie ich, dann entwickelt man immerhin auch Strategien, mit dieser Verpeiltheit umzugehen. Strategien, die meistens etwas mit kopflosem Durch-die-Gegend-Rennen, panischem Herumtelefonieren und verzweifeltem Suchen zu tun haben. Wie gut, dass ich gut zu Fuß bin.

 

Das brachte mir auch in dem Moment etwas, in dem ich dann die Endhaltestelle erreichte. Bis zum Bürgerbüro waren es nämlich noch 900 Meter und ich hatte sage und schreibe noch genau 6 Minuten Zeit bis zu meinem Termin. Machten 1,5 Minuten pro hundert Meter, - mit Rucksack. Super. Auf Google-Maps hatte das irgendwie doch nicht so weit ausgesehen… Jedenfalls begann ich wieder zu rennen, zwischendurch abwechselnd einen hektischen Blick auf die Karte und die digitale Uhr meines Handys werfend. Um 11:47 , - und damit lediglich 2 Minuten zu spät, es hätte schlimmer kommen können, - betrat ich außer Atem und völlig erschöpft das Gebäude. Wie immer beschlugen mit der Maske im Gesicht natürlich sofort meine Brillengläser und nahmen mir die Sicht. Immer noch nach Luft ringend begann ich kurz über die möglichen Folgen einer Kohlenstoffdioxid-Vergiftung nachzudenken, wurde jedoch glücklicherweise recht schnell aufgerufen und damit aus meinen Gedanken gerissen.

Immerhin ging die Ummeldung an sich reibungslos und schnell über die Bühne und machte mich darüber hinaus auch noch um einige Gutscheine reicher: Cineplex, Aquamar, Theater… 3 Monate gültig. Hm… Blieb zu hoffen, dass besagte Betriebe innerhalb dieser Frist irgendwann auch wieder öffnen würden.

 

Da mir die Zeit für ein ausgiebiges Mittagessen fehlte, kaufte ich mir bei einem Bäcker noch schnell ein Brötchen, bevor ich wieder in den Bus stieg, um zu meinem Biologie-Kurs zu fahren, der in Präsenz auf den Lahnbergen stattfand. Tatsächlich stieg ich in den richtigen Bus, erreichte trotz kurzer Umsteigezeit auch den nächsten und kam pünktlich vor Beginn der Veranstaltung an den Fakultätsgebäuden an. Natürlich hatte ich viel zu wenig Trinken mitgenommen, was sich jetzt rächte, da der Kurs nicht nur dreieinhalb, sondern unerwarteterweise viereinhalb Stunden am Stück dauerte. Viereinhalb Stunden, in denen wir frierend in dem eiskalten, dauergelüfteten Labor standen und versuchten, unsere Bakterienkulturen zu transformieren.

 

Anschließend froren wir an der Bushaltestelle weiter, da anscheinend sämtliche Busfahrer beschlossen hatten, die Haltestelle auf ihrer Route zu meiden und trotz angesagter Ankunftszeiten eine halbe Stunde lang kein einziger Bus auftauchte. Vermutlich war es dieser Moment, in dem ich begann, mich vera***** zu fühlen. Es war einfach einer dieser Tage, an denen nichts so richtig gelingen wollte und zu allem Überfluss fiel mir nun auch noch auf, dass ich irgendwann in dem ganzen Chaos meine Handschuhe verloren haben musste. Super.

 

Eigentlich hatte ich am Abend noch den Eröffnungsgottesdienst der Evangelischen Studierendengemeinde besuchen wollen, war - als der Bus dann endlich kam - jedoch so erschöpft, dass ich am liebsten einfach sofort nach Hause gefahren wäre. ,Andererseits…‘ so überlegte ich, ,konnte ein schöner Tagesabschluss ja eigentlich nicht schaden.‘ Und da der Bus ohnehin bis zum Hauptbahnhof fahren sollte, entschloss ich mich spontan, dem Gottesdienst doch noch einen Besuch abzustatten. Am Bahnhof angekommen deckte ich mich schnell mit etwas zu Trinken und ein paar Brötchen auf die Hand ein und lief dann zu Fuß zu dem Gemeindegebäude. Die Turmglocken sämtlicher Marburger Kirchen schlugen genau 7 Uhr, als ich es erreichte, doch schon von weitem registrierte ich, dass etwas nicht stimmte: Im gesamten Gebäude brannte kein Licht. Der Platz vor der Gemeinde war auch nicht mit Studenten übersäht, so wie ich es erwartet hatte, sondern stattdessen vollkommen leer. Immerhin stand die Tür offen, als ich mich allerdings ein wenig in dem dunklen Eingangsflur umgesehen hatte, viel mein Blick recht schnell auf ein Plakat, das den heutigen Eröffnungsgottesdienst anpries: In der Elisabethkirche. Das in studentischen Kreisen auch liebevoll als „E-Kirche“ bezeichnete Bauwerk lag natürlich an einem völlig anderen Teil der Stadt und ich sank resigniert und völlig erschöpft in mich zusammen. Jetzt einfach ein Bett und ein heißer Tee… Doch ein Teil von mir war wütend und wollte sich damit nicht zufriedengeben. Während ich frustriert zum Bahnhof zurückstapfte, überlegte ich hin und her: Ich war an meiner Wohnung vorbeigefahren, hatte Brötchen und Wasser gekauft und völlig umsonst Geld ausgegeben, wenn ich jetzt wieder zurückfuhr. Außerdem stellte sich dieses „Zurückfahren“ als äußerst schwierig heraus, da in der nächsten Viertelstunde ohnehin kein Bus in Richtung Ginseldorfer Weg fahren würde. Ob ich nun also doch noch zur Elisabethkirche ging, machte also ohnehin keinen Unterschied mehr.

 

Kurzentschlossen änderte ich abermals meinen Kurs und machte mich auf den Weg in die Innenstadt. Auf dem Weg beschleunigte ich meine Schritte, um die Kälte aus meinen Gliedern zu vertreiben und war unheimlich erleichtert, als ich die große Kirchentür bereits aus der Ferne offenstehen sah.

Im Inneren angekommen suchte ich mir schnell einen Platz und lies mich anschließend von den Orgelklängen und den Worten der Pastorin davontragen. Es ging darum, das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen, darum, dass bei Gott jeder willkommen war, - und zwar zu jeder Zeit, - und dass wir mit einer Hoffnung auf eine Ewigkeitsperspektive mutig aber verantwortungsvoll vorangehen konnten. Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren, doch allein die Tatsache, dass als Willkommensgeschenk jeder eine Brotbüchse mit Lebkuchen, Mandarinen und Nüssen erhielt, war für meinen knurrenden Magen und mein malträtiertes Gemüt eine reine Wohltat.

Es half mir sogar, die Tatsache, dass nach dem Gottesdienst natürlich wieder kein Bus fuhr, mit Gelassenheit zu nehmen. Während ich den langen Weg zurück nach Hause stapfte, wusste ich, dass Gott mich in all diesem Chaos trug und direkt an meiner Seite war. Es war halb neun, als ich schließlich in meiner WG ankam und da ich mich den Tag über praktisch nur von Brötchen ernährt hatte, beschloss ich, trotz der fortgeschrittenen Zeit noch etwas Warmes mit viel Käse zu kochen. Völlig erschöpft viel ich ins Bett.

 

Der Donnerstag war da schon etwas besser: Zwar war es diesmal Jonny, der den verabredeten Bus verpasste, sodass ich auf dem Weg zu dem Celebrate-Abendgottesdienst eine Weile auf ihn warten musste, doch wir kamen noch rechtzeitig und genossen die schöne Musik und die inspirierenden Worte während der Predigt sehr. Auch die Gespräche nach dem Gottesdienst waren, - trotz Abstand und Maske, - eine schöne Abwechslung zu den Stunden, die ich zuhause allein vor dem PC verbrachte. Normalerweise waren wir anschließend immer zu Fuß durch die gesamte Stadt bis nach Hause gelaufen (und zwischendurch mehreren Bussen hinterhergerannt), an diesem Abend erreichten wir tatsächlich jedoch einen, der uns fast bis vor unsere Haustür brachte. Es war wie eine Entschuldigung für den vorherigen Tag und machte mich dankbar für etwas, das ich ansonsten womöglich als selbstverständlich angesehen hätte.

 

Normalerweise wäre ich das Wochenende zu meiner Familie nach Hause gefahren, doch in der Klasse meines Bruders hatte es einen positiven Corona-Fall gegeben. Da Manuel allerdings erst am Montag getestet werden würde, fiel nun auch dieser Besuch flach, - und damit mein Plan, endlich meine warmen Wintersachen mit nach Marburg zu nehmen. Die Tage wurden immer kälter und nebliger und bisweilen wurde ich von einer unerwarteten, eiskalten Wand erschlagen, wenn ich das Haus verließ.

Am Freitag setzte ich also wieder auf die Strategie „Zwiebelprinzip“. Als Handschuhersatz dienten zwei Wollsocken, die mir vergangenes Weihnachten geschenkt worden waren und mich auf dem Fahrrad tatsächlich recht gut gegen die Kälte schützten. Man muss sich nur zu helfen wissen! (Verpeiltheit-Strategien, ihr erinnert euch…) Und meine Jacke erreichte mich in Form eines liebevoll von meiner Mutter gepackten Pakets an demselben Tag ebenfalls.

 

Kurz gesagt: Es schien ein guter Tag zu werden. Einer, an dem die Sachen, die ich mir vorgenommen hatte, auch gelangen: Nach meinem Spanischsprachkurs radelte ich noch Einkaufen, um mich für das Wochenende mit Lebensmitteln einzudecken und hatte zurück in meiner Wohnung angekommen sogar noch kurz Zeit, etwas zu essen, bevor ich mit wieder auf den Weg zum Biologie-Fakultätsgebäude machte. Dieses Mal erwischte ich den richtigen Bus, kam überpünktlich an (sicher ist sicher) und fand mich kurz darauf in einer erfrischend kurzweiligen Mentorierungsgruppe wieder. Das lag vor allem an dem angenehmen Humor unseres Tutors, gleichzeitig jedoch auch daran, dass das ganze lediglich eine Dreiviertelstunde dauerte. (Über die Tatsache, dass man für diese 45 Minuten in etwa zwei Stunden seines Freitagnachmittages opfern musste (Heimfahrt, Ade…) und uns die Info, dass es überhaupt eine solche Gruppe geben sollte, auch erst zwei Tage vorher erreichte, sehen wir jetzt einfach einmal gekonnt hinweg…)

 

So weit so gut, jedenfalls waren wir um 16 Uhr dann auch schon entlassen und eine Kommilitonin bat mir freundlicherweise sogar an, mich mit dem Auto mit hinunter zu nehmen. Schon während des Rausgehens freute ich mich auf eine gemütliche Tasse Kaffee an meinem Schreibtisch und kontrollierte gleichzeitig sicherheitshalber noch einmal meine Tasche. (Und ja, hier haben wir es wieder: Eine weitere Verpeiltheit-Strategie.) Mein Puls beschleunigte sich, als ich mein Handy nicht finden konnte. Stocksteif blieb ich auf der Stelle stehen und durchsuchte mit hektischen Bewegungen den Innenraum meiner Handtasche. Es musste doch… Ich war mir sicher, dass ich… Wo war es nur…

 

Reneé war neben mir stehengeblieben. „Ruhig.“, sagte sie nur. „Wenn man glaubt, dass etwas weg ist, dann findet man es auch nicht.“ Mir blieb nicht die Zeit, über diese weisen Worte nachzusinnen, stattdessen unterdrückte ich ein Stöhnen und rief Kyra zu, dass ich noch etwas holen müsse und sie nicht auf mich warten solle. „Euch einen schönen Tag noch!“, wünschte ich den anderen, während ich bereits zurückhastete und in meinem Kopf das Mantra wiederholte, dass das hier einfach nicht wahr sein konnte. Und: Bitte lass den Raum noch offen sein, bitte lass den Raum noch offen sein, bitte lass… Bitte…

 

Er war natürlich bereits abgeschlossen. Von unserem Tutor keine Spur. Generell war das Gebäude der Bio-Fachschaft bereits ziemlich leer und das Chaos aus engen, fensterlosen Fluren, verwinkelten Treppenhäusern, weitläufigen Gängen und einer gefühlt unendlichen Anzahl völlig identisch aussehender Büros der reinste Albtraum… Jedenfalls für einen Ersti wie mich. Nach wenigen Minuten hatte ich in dem neonlicht-gefluteten Labyrinth bereits völlig die Orientierung verloren und der Hinweis der Dame aus der Bibliothek, die mir die Zimmernummer unseres Mentoren verraten hatte, half mir auch nicht mehr weiter. Ich kannte das Stockwerk, das ja. Aber dieses Stockwerk war leider riesig. Und meine Hoffnung ziemlich klein. Was, wenn er mittlerweile schon gegangen war? Mit jedem Korridor, den ich passierte, schien mir die Zeit ein kleines bisschen mehr davonzurennen.

 

Manchmal erkundigte ich mich in einem offenstehenden Labor nach dem gesuchten Büro, bekam dann eine ellenlange Wegbeschreibung, die ich nach spätestens dem dritten Abzweig schon wieder vergessen hatte. Spätestens dann, als ich das dritte Mal an demselben Labor vorbeihastete, begann ich so langsam zu verzweifeln. Nach dieser ganzen anstrengenden Woche, meinem gestörten Schlafrhythmus und der vielen einsamen Zeit allein zuhause hatte ich wirklich Mühe, die Tränen zurückzuhalten, - und dabei hatte ich schon lange nicht mehr geweint.

Dies schien eine Reinigungskraft zu bemerken, die mich in meinem offensichtlich desolaten Zustand verwirrt musterte. „Entschuldigung?“, stammelte ich schließlich. „Können Sie mir vielleicht helfen? Wissen Sie, also mein Mentor ist nicht mehr da und unser Kursraum ist abgeschlossen und ich habe mein Handy darin verloren, das habe ich eben erst gemerkt, es muss mir aus der Tasche gefallen sein, und jetzt suche ich ihn und ich kenne auch seine Büronummer, aber ich weiß nicht, wo er ist, und eigentlich, - also, wenn Sie einen Schlüssel zu dem Raum hätten, dann… Haben Sie vielleicht einen Schlüssel?“


Ich kann im Nachhinein nicht mehr so ganz genau rekonstruieren, was ich da so alles zusammenstotterte, ihrem Blick nach zu urteilen dachte Sie bei meinem chaotischen Wortschwall vermutlich nur eines: Achso. Erstsemester.

Zuerst war sie sich nicht sicher, was ich meinte, dann zeigte sie mir die Räume, zu denen sie einen Schlüssel besaß, - was meinen natürlich nicht betraf. Dann, als ich den Namen des Mentors erwähnte, hellte sich ihre Miene für einen kurzen Augenblick auf und sie nickte eifrig. „Also, sein Büro kann ich Ihnen zeigen.“ Ich konnte es selbst noch nicht so ganz glauben. „Danke!“, sagte ich deshalb nur. „Vielen, vielen Dank!“ 

 

Im Nachhinein hätte ich ihn wirklich nie gefunden. Man musste durch ein paar verwaiste Flure laufen, in denen ich von allein niemals gesucht hätte. Und als er schließlich vor mir stand und sich mit mir gemeinsam auf die Suche nach demjenigen machte, an den er den Schlüssel bereits abgegeben hatte, schaffte ich es endlich, wieder etwas durchzuatmen. Oh Mann… Das war mal wieder so typisch. Aber tatsächlich war das Handy noch im Raum, ich fand es sofort und kann die Erleichterung kaum beschreiben, die in diesem Augenblick durch meine Adern strömte. Auch ihm dankte ich überschwänglich und hatte auf dem Weg zur Bushaltestelle seltsamerweise das Gefühl, zu schweben. Eine gute zusätzliche Stunde hatte mich meine Suche nun insgesamt gekostet, auch wenn es mir im Nachhinein viel länger vorkam.

 

Ich las noch lange an diesem Abend und schlief am nächsten Samstag erst einmal aus. Um halb elf hatte ich schon lange nicht mehr gefrühstückt, doch es war Wochenende und neben einigem Stoff für die Uni hatte ich nichts vor. Und so genoss ich also den Tag, lief mir beim Joggen im sonnengefluteten Herbstwald den Stress aus den Beinen und verwöhnte meine geschundene Seele mit leckerem, frisch gekochten Essen. Selbst, als mich per Whatsapp die Nachricht erreichte, dass ich vor knapp zwei Wochen mit jemandem in demselben Gemeinderaum gesessen hatte, der nun positiv auf Corona getestet worden war, geriet mein emotionales Gleichgewicht nicht ins Wanken. Stattdessen telefonierte ich mit meinem Vater, der für ein Krankenhaus das Corona-Konzept erstellt hatte und fragte ihn nach seiner Meinung. Dass ich mich angesteckt hatte, war wegen Abstand und Maske und nicht zuletzt auch wegen der fortgeschrittenen Zeit höchst unwahrscheinlich und auch das Gesundheitsamt würde mich wegen dieser Faktoren vermutlich nicht mehr kontaktieren. Das half mir, durchzuatmen. Dennoch malte es mir ein weiteres Mal vor Augen, wie knapp ich einer Quarantäne entronnen war und half mir, jeden Moment der Freiheit an der frischen Luft noch stärker zu genießen. Eine Freundin von mir würde jetzt sagen: „Man weiß nie, wozu es gut war.“ , - und sie hat recht. Wenn mich diese Zeit eines lehrt, dann dankbar zu sein.

 

 

Ich habe so viel. Da fallen die Stressmomente nicht so sehr ins Gewicht.

Allein, dass es mir möglich ist, zu studieren, ist ein Wunder. Finanziell gesehen, gesellschaftlich und kulturell betrachtet, aber natürlich auch auf historischer Ebene. Viele Frauen haben jahrhundertelang davon geträumt. Der Fakt, dass ich mich kaum zwischen zwei Studiengängen entscheiden kann, ist ein Luxus der freien Wahl. Meine Wohnung mit viel Platz ist ein unheimliches Privileg und wenn ich sie mit den Behausungen vergleiche, die ich in den Bergdörfern der peruanischen Anden gesehen habe, dann habe ich beinahe ein schlechtes Gewissen. Ich will also lernen, nichts für selbstverständlich zu nehmen und von meinem Überfluss abzugeben, solange ich ihn noch habe: Ich lebe in Verantwortung vor Gott und ich bin nicht Eigentümer von dem, was er mir geschenkt hat, sondern nur Verwalter. Und ich möchte ein kluger Verwalter sein.