Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! - Ein paar Gedanken zur Jahreslosung 2021

„JESUS CHRISTUS SPRICHT: ,SEID BARMHERZIG, WIE AUCH EUER VATER BARMHERZIG IST.‘ “ (Lukas 6,36) – Ein paar Gedanken zur Jahreslosung

 

Wenn wir dazu aufgefordert werden, barmherzig zu sein, dann ist zunächst einmal die Frage zu stellen, was Barmherzigkeit überhaupt bedeutet. Wikipedia nennt Barmherzigkeit als eine Eigenschaft des menschlichen Charakters: „Eine barmherzige Person öffnet ihr Herz fremder Not und nimmt sich ihrer ,mildtätig‘ an.“ Dabei gehe es weniger um das Mitfühlen als vielmehr um eine davon unabhängige Großzügigkeit.

In der Bibel wird vor allem Gott als barmherzig beschrieben: Als Gott sich dem geflohenen und an ihm zweifelndem Volk Israel im 2. Buch Mose am Berg Sinai zu erkennen gibt, so heißt es dort: „Ich bin der Herr, der barmherzige und gnädige Gott. Meine Geduld ist groß, meine Liebe und Treue kennen kein Ende! Ich lasse Menschen meine Liebe erfahren über Tausende von Generationen. Ich vergebe Schuld, Unrecht und Sünde, doch ich lasse nicht alles ungestraft.“ (2. Mose 34,6-7)“ Schon im alten Testament wird Gott immer wieder als der „Barmherzige und Gnädige“ gepriesen (z.B. Psalm 103,8). Aber auch im neuen Testament greift Jesus das Motiv der Barmherzigkeit auf, indem er einem Schriftgelehrten - auf die Frage, wer denn nun der Nächste sei, denn man lieben solle wie sich selbst, - mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet:

 

»Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab. Unterwegs überfielen ihn Räuber. Sie nahmen ihm alles weg, schlugen ihn zusammen und ließen ihn halb tot liegen.

31Nun kam zufällig ein Priester denselben Weg. Er sah den Mann liegen und ging vorbei. 32Genauso machte es ein Levit, als er an die Stelle kam: Er sah ihn liegen und ging vorbei.

33Schließlich kam ein Reisender aus Samarien. Als er den Überfallenen sah, ergriff ihn das Mitleid.
 34Er ging zu ihm hin, behandelte seine Wunden mit Öl und Wein und verband sie. Dann setzte er ihn auf sein eigenes Reittier und brachte ihn in das nächste Gasthaus, wo er sich weiter um ihn kümmerte.

35Am anderen Tag zog er seinen Geldbeutel heraus, gab dem Wirt zwei Silberstücke und sagte: ›Pflege ihn! Wenn du noch mehr brauchst, will ich es dir bezahlen, wenn ich zurückkomme.‹«

36»Was meinst du?«, fragte Jesus. »Wer von den dreien hat an dem Überfallenen als Mitmensch gehandelt?«

37Der Gesetzeslehrer antwortete: »Der ihm geholfen hat!«

Jesus erwiderte: »Dann geh und mach du es ebenso!«

 

Diesen Text habt ihr bestimmt schon einmal irgendwo gelesen oder gehört, doch ich möchte kurz darauf hinweisen, wie revolutionär der Gedanke ist, den Jesus hier eigentlich ins Spiel bringt, - und wie oft er völlig übergangen wird. Der Pharisäer stellt die Frage nicht einfach so. Er kennt sich in der Tora aus, - das macht seine vorherige Antwort deutlich: Wenn man Gott höher achtet als alles andere und seinen Nächsten liebt, wie sich selbst, dann ist das gesamte Gesetz erfüllt. Doch der Schriftgelehrte hakt noch weiter nach: Ist damit wirklich jeder gemeint? Indem er sich danach erkundigt, wer denn nun genau der Nächste ist, hofft er eigentlich auf eine Eingrenzung. „Nur die Juden“ etwa, oder: „Nur diejenigen, die auch Gott lieben oder auch dich gut behandeln.“ Jesus antwortet allerdings nicht direkt, sondern dreht die Frage stattdessen einfach um: „Wer war dem der Nächste (im Text „Mitmensch“), der es brauchte? Nicht der Hilfsbedürftige ist also der Nächste, sondern derjenige, der hilft. Damit wird aus der erhofften Eingrenzung eine völlige Entgrenzung und gleichzeitig die Aufforderung, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und sich aktiv ständig zu fragen, wem, - und zwar egal, wem - man gerade der Nächste sein könnte. Stand, Herkunft oder Ansehen qualifiziert uns genauso wenig dafür, ein „Nächster“ zu sein, wie es den Hilfsbedürftigen disqualifiziert. Entscheidend sind lediglich unser Verhalten und die Offenheit, uns von Gott gebrauchen zu lassen. In Jesus Gleichnis ist es nicht zufällig ein von den Juden verachteter Samariter, der als Erster die Initiative ergreift. 

 

Hier wird es nun für uns konkret. Jesus beendet seine Beispielerzählung mit dem klar formulierten Auftrag „Dann geh und mach du es ebenso!“ Man muss also losgehen; und dem Leid bewusst begegnen, damit es einen in der Tiefe berühren kann. In Jesaja 58, 10 steht dazu: „Wenn du den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen.“ Mit diesem Vers möchte ich gerne noch einmal Bezug auf meinen letzten Blogartikel nehmen, in dem es darum ging, wie man auch 2021 hoffnungsvoll und optimistisch vorangehen und vor allem auch selbst ein Hoffnungsspender, also: „Licht“ sein kann. Hier ist also eine mögliche Methode vorschlagen: Barmherzigkeit in Form von Freigiebigkeit und Hilfsbereitschaft zu üben. Selbst, wenn alles um uns herum dunkel und düster sein sollte, können solche Entscheidungen dazu führen, dass in der Finsternis ein Licht aufgeht. 

 

Das Schöne ist, dass unsere Jahreslosung nicht nur auf den Auftrag „Seid barmherzig!“ begrenzt ist. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ heißt es stattdessen. Der Vergleich mit der Barmherzigkeit Gottes ist zunächst einmal natürlich eine ziemlich hoch angesetzte, - letzten Endes schlichtweg unerreichbare Messlatte. Doch auch hier müssen wir den Zusatz nicht auf den Vergleich „wie auch euer Vater“ reduzieren, sondern dürfen ganz bewusst auch den Zuspruch annehmen, der darin enthalten ist: Zuallererst, bevor wir überhaupt barmherzig sein konnten, war Gott es, der mit uns Erbarmen hatte. Er hat uns mit so vielen natürlichen Gaben und Geschenken überschüttet, er lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte und er schenkt uns einen Neuanfang, ein völlig neues Leben, - obwohl wir das eigentlich überhaupt nicht verdient haben. Seine Barmherzigkeit hängt nicht von unseren Taten ab, gemeint ist nicht: „Seid barmherzig, weil nur dann auch Gott mit euch barmherzig ist.“, sondern: „Euer Vater ist barmherzig mit euch gewesen, deshalb sollt auch ihr barmherzig sein.“

Interessanterweise bedeutet das griechische Wort im Urtext nicht einfach nur „Sein“, sondern steht mehr oder weniger im Passiv. Übersetzt werden könnte die Aufforderung, barmherzig zu sein, also auch folgendermaßen: Lasst euch von Gott zu Menschen mit einem barmherzigen Charakter verwandeln, lasst diese Veränderung an euch zu! Genauso, wie der Mond nur dann leuchtet, wenn er von der Sonne angestrahlt wird, können auch wir nur dann „Licht sein“, wenn wir in einer Beziehung mit Gott leben. Wir stehen dann nicht in der Verantwortung, selbst Lichtquelle zu sein, sondern dürfen stattdessen Reflektor eines ewigen, unvergänglichen Lichtes sein. Wir können von seiner Barmherzigkeit weitergeben, selbst wenn unsere menschliche Fähigkeit, barmherzig zu sein, längst erschöpft ist. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich empfinde das als eine echte Ermutigung. 

 

Was heißt das nun, - und zwar nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch: Für uns, für unsere Mitmenschen und für das neue Jahr, das nun kommt? Was bedeutet es, barmherzig zu sein, wie auch „unser Vater barmherzig ist“?

Vor allem verstehe ich es gerade in der jetzigen Krise als eindeutige Aufforderung, nicht zu hart miteinander ins Gericht zu gehen. In demselben Kapitel, in dem sich auch der Vers der Jahreslosung für 2021 befindet, steht auch Folgendes:

Ihr aber sollt eure Feinde lieben und den Menschen Gutes tun. Ihr sollt anderen etwas leihen, ohne es zurückzuerwarten. Dann werdet ihr reich belohnt werden: Ihr werdet Kinder des Höchsten sein. Denn auch er ist gütig zu Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist! Urteilt nicht über andere, dann wird Gott euch auch nicht verurteilen! Richtet keinen Menschen, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden! Wenn ihr vergebt, dann wird auch euch vergeben. Gebt, was ihr habt, dann werdet ihr so überreich beschenkt werden, dass ihr gar nicht alles aufnehmen könnt. Mit dem Maßstab, den ihr an andere anlegt, wird man auch euch messen.“

 

Ein christlicher Schriftsteller betete einmal folgendes Gebet: „Gott, zeige mir, wie du liebst und erfülle mich mit dieser Liebe zu den Menschen.“ Später berichtete er, dass er diese Bitte fast ein wenig bereute, weil es auch mit viel Trauer einherging, so tief mit anderen mitzufühlen. Wenn Barmherzigkeit vor allem eine Eigenschaft Gottes ist, dann kann auch er uns so tief verändern, dass diese Eigenschaft eine Kraft in uns wird, die sich bedingungslos dem Nächsten zuwendet und ihn nicht übersieht, selbst, wenn er uns enttäuscht. Barmherzigkeit sieht die Not und es geht ihr letztlich nicht nur darum, Menschen aus einer bestimmten Situation zu retten, sondern ihnen auch wieder eine Perspektive und einen Raum für ihr Leben zu geben. Sie fragt nicht nur danach, wo jemand gerade steht, sondern auch danach, was er wirklich braucht.

 

So wie ich diese Verse unter anderem verstehe, geht es darum, jeden Menschen mit Gottes Augen zu betrachten, - oder es zumindest zu versuchen: Als geliebtes, gewolltes Geschöpf mit allen Eigenheiten, Makeln und vielleicht auch Schwächen. Als wertvolle, würdevolle Person, der wir genauso vergeben sollen, wie uns vergeben wurde, - selbst wenn dieser jemand es genauso wenig verdient haben sollte, wie wir selbst. Es bedeutet außerdem, dass wir wieder aufeinander zugehen und als Brückenbauer aktiv werden sollen.

Juli Zeh hat vor kurzem einen Text zu unserem Verhalten bezüglich der Corona-Pandemie veröffentlicht, der mich sehr zum Nachdenken über dieses Thema gebracht hat:

 

Es ist nicht leicht, über Corona zu reden. Zwar kommen im öffentlichen Gespräch inzwischen verschiedene Meinungen vor, aber noch immer wird auf konträre Meinungen viel zu oft mit reflexartiger, manchmal regelrecht aggressiver Unduldsamkeit reagiert. Für diese Empfindlichkeit gibt es unterschiedliche Gründe: die Größe und Geschwindigkeit, die Tatsache, dass Tod und Sterben schon lange tabuisierte Themen sind; die schwindende Fähigkeit, mit einem breiten Meinungsspektrum umzugehen, was bereits vor der Pandemie zu beobachten war. Der vielleicht wichtigste Grund besteht darin, dass die Pandemie konkurrierende Fundamentalängste auslöst, die aufeinanderprallen. Eine Angst bezieht sich auf das Virus: Krankheit, Tod, Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Eine weitere auf ökonomischen Existenzverlust und volkswirtschaftlichen Ruin. Eine dritte auf die Art der Virus-Bekämpfung: Abschaffung der Demokratie, schrittweiser Übergang in eine Vor- und Fürsorge-Diktatur. Wir streiten nicht nur darum, was vernünftiger getan werden sollte. Sondern auch darum, wessen Angst die berechtigte ist. Das lässt Emotionen hochkochen. Aber dieser Streit kann niemals entschieden werden. Er lässt sich weder mit zahlen noch mit Szenarien belegen, wer beim Angsthaben am meisten Recht hat. Und je erbitterter wir – meist unbewusst – darum kämpfen, desto größer werden auf allen Seiten die Ängste. Niemand kann wissen, welche Strategie zur Bewältigung der Pandemie tatsächlich die Beste ist. Eins bleibt bei aller Unsicherheit aber gewiss: Wenn wir einander beim Streiten weiterhin schwere Verbal-Verletzungen zufügen, werden auch diese möglicherweise fatale Spätfolgen zeitigen. Wir haben in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ein wertvolles Geschenk erhalten: Eine Gesellschaft, in der wir angstfrei miteinander leben und reden können. Lasst uns die Gesundheit dieser Gesellschaft schützen, indem wir den AHA-Bestimmungen drei SOS-Regeln zur Seite stellen: Sensibilität im Umgang mit fremden Ängsten, Offenheit für abweichende Positionen, Sorgfalt beim Formulieren der eigenen Ansichten. Unsere Chancen, gut durch die Krise zu kommen, werden rapide steigen.“

 

 

Lasst uns einander also wieder zuhören und uns gegenseitig ermutigen, anstatt uns gegenseitig zu verurteilen! Lasst uns Friedenstifter sein! (Hier lässt sich im Übrigen auch gut ein Bezug zur letzten Jahreslosung herstellen: „Suche Frieden und jage ihm nach! (Psalm 34,15)“ war der ausgewählte Vers für das Corona-Jahr 2020. Nicht zuletzt sind die Friedenstifter sogar ein zentraler Bestandteil der Seligpreisungen in der Bergpredigt: „Selig sind die Friedenstifter, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“) Lasst uns für alle erträgliche Kompromisse finden, einen Blick hinter die Kulissen werfen, Ängste anderer akzeptieren und die eigenen ab und an vielleicht auch hinterfragen. Lasst uns wieder aufeinander zugehen und lasst uns vor allem besonders gegenüber all denen verständnisvoll und hilfsbereit sein, die unter Corona selbst oder auch den Folgen der Pandemie-Maßnahmen leiden. Lasst uns barmherzig sein: Barmherzig, wie auch unser Vater barmherzig ist.