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Pfadfindercamp Laguna Humantay

 

Vom 6. bis zum 8. Dezember fuhren Julian, Janna und ich gemeinsam mit der bisherigen Pfadfinder-Leiterin Deborah und 13 Kindern zum Salcastay, einem 6000er, etwa zweieinhalb Stunden Fahrtzeit von Curahuasi entfernt. Bereits die Autofahrt gestaltete sich spannend und abwechslungsreich. Nach einem letzten Dorf erreicht man die majestätischen Gipfel lediglich über einen einzigen, nicht asphaltierten Weg, der sich in Serpentinen durch die Wälder schlängelt.

 

Ja, ihr habt richtig gelesen: Je höher man hier kommt, desto grüner und urwaldähnlicher wird die Natur durch die vielen Niederschläge. Gleichzeitig ist sie aber auch noch unberührter, als das beispielsweise in Curahuasi mit seinen vielen Anisfeldern der Fall ist.

 

Bereits in dem Moment, als wir das letzte Dorf durchquerten, begann es, zu regnen. Fisselige, kalte, langgliedrige Regenfinger, die bald in eintönigem Staccato auf die Frontscheiben der beiden Autobusse trommelten. Es wurde immer kälter, dunkler und rutschiger auf der Straße und als ob das nicht genug gewesen wäre, kam in meinem Fall auch noch die Aufregung hinzu. Wie würde mein Körper die Höhe aushalten? Immerhin hatten wir vor, auf über 4000 Metern über dem Meeresspiegel zu zelten. Und würden wir es noch rechtzeitig schaffen, die Zelte aufzubauen?

 

Deborah und Janna hatten mir bisher kein besonders vielversprechendes Bild des Zeltplatzes vor Augen gemalt: Kein Gras, sondern Steine und Erde. Ein ehemaliger Stellplatz für Esel.

 

Und Erde wird bei Regen zu...? Richtig: Schlamm.

 

Wie erwartet, kamen wir erst an, als es bereits dunkel war. Das hatte allerdings auch sein Gutes. Die Besitzerin der Ferienanlage lud uns in die Ferienhäuser selbst ein und wir durften in dem großen Gruppenraum schlafen, von dem aus man tagsüber einen tollen Blick auf die schneebedeckten Gipfel haben sollte. Sie brachte uns außerdem eine heiße Schokolade und sorgte damit dafür, dass wir uns auf Anhieb wohl fühlten. Da der Boden nicht isoliert war, war es in dem Raum trotzdem recht kalt, doch das war allemal besser, als im Regen und in der Dunkelheit draußen ein Zelt aufzubauen. Wir hatten außerdem an dicke Woll- und Fließdecken gedacht, sodass ich nach einem späten Abendessen (die Jungs hatten wie wahre Helden draußen unter einem Tarp tatsächlich ein Feuer zustande gebracht) und einer letzten Andacht über das Thema „Lüge“ unerwartet gut schlief.

 

Auch von der Höhe und der damit einhergehenden dünnen Luft merkte ich wenig.

 

 

Am nächsten Morgen kümmerte ich mich mit einem der älteren Mädchen zunächst um das Frühstück. Es gab die hier so typische Haferflockensuppe (95% Wasser, 5% Haferflocken) mit Zimt und Äpfeln und natürlich noch einige Reste des gestrigen Abendessens. Jedes Kind hatte sich zudem die Menge an Brot mitnehmen sollen, die es für das Wochenende benötigte. Das mit dem Brot ist hier so eine Sache. Das, was man hier am öftesten zu kaufen bekommt, sind süßliche Weißbrotfladen, die beim ersten Mal noch relativ gut schmecken... und spätestens beim zehnten Mal dann nach gar nichts mehr.

 

Glücklicherweise gibt es auch noch meinen Helden Matthias, einen unheimlich liebenswerten Deutschen, der jeden Mittwoch um 4 Uhr in der Frühe zum Krankenhaus radelt, um dort in der großen Küche teilweise über 1000 Brötchen zu backen: Und zwar unterschiedliche Sorten!

 

Dieser Mann war es, der mir dieses Wochenende das Leben rettete. Dieser Mann und die Mutter von drei Kindern, die mit von der Partie waren. Doro buk ebenfalls sehr gutes Brot – und hatte mir sogar gezeigt, wie man es machte.

 

 

 

Nach dem Frühstück, das wir unter einem selbst gemachten Unterstand mit Blick auf die überwältigende Kulisse des Salcastay und seine Nachbargipfel genossen, bauten wir gemeinsam die Jurte auf. Und erst, als ausnahmslos alles stand, wiesen wir die Kinder an, die nötigen Sachen für die Wanderung zu packen, die wir geplant hatten. Lang war sie eigentlich nicht, - es konnte sich höchstens um zwei bis drei Stunden handeln, - dafür aber anstrengend. Von ungefähr 4000 Höhenmetern wanderten wir zu der noch höher gelegenen Lagune „Huamantay“ und nun bemerkte ich die Höhe doch. Jedenfalls war ich während der Wanderung ziemlich am Keuchen – und ich hoffe jetzt einfach mal, dass der Grund dafür die dünnere Luft war.

 

So beschwerlich der Weg auch war; er lohnte sich allemal.

 

Nach der letzten Kurve lag plötzlich die Lagune vor uns, ihr Wasser von einem fast unnatürlich tiefen türkisblau, das einen wunderschönen Kontrast zu dem schroffen Gletscher dahinter und den umliegenden, bewaldeten Hängen bildete. Gemeinsam mit Anna, einem 15-jährigen Mädchen, das ebenfalls bereits als Mitarbeiterin mitmacht, setzte ich mich zufrieden auf einen Felsvorsprung und genoss die Aussicht.

 

Die Lagune war außerdem Treffpunkt für viele Abergläubige und Schamanen, die das wenige, was von ihrem alten Naturglauben noch übrig ist, leider in kommerzialisierter Variante an zahlende Touristen weitergeben: In Grüppchen saßen die vielen Menschen um jeweils einen Schamanen herum, klatschten in einem bestimmten Takt, um den Geistern zu huldigen und ließen Koka-Blätter herumgehen, die von dem Gruppenführer mit mystischen Formeln besprochen worden waren.

 

Auch wir saßen in einem Kreis, die Botschaft war jedoch eine andere.

 

 

Passend zum Thema hatte Deborah die Kinder unter einem falschen Vorwand ein ganzes Stück lang den falschen Weg gehen lassen. Erst, als einige schon erschöpft waren, „enttarnte“ ich sie kurzerhand mit Googlemaps und wir waren beide kaum verblüfft, wie echt und tief die Entrüstung der Jungen und Mädchen war. Diese Lüge griff Anna nun in ihrer Andacht auf. Sie erzählte davon, wie es war, Gottes Wahrheit zu vertrauen. Dazu stellte sie ein Schild mit dem spanischen Wort für „Ziel“ auf, verknüpft mit positiven Worten, die wir vorher gemeinsam gesammelt hatten und ging darauf zu. Allerdings machte sie jedes Mal, wenn sie in ihrem Leben eine Lüge lebte, einen Schritt zur Seite. Die Message: Gott will Gutes für unser Leben: Liebe, Güte, Gnade, Frieden und Glück, beispielsweise. Wenn wir seiner Wahrheit vertrauen, dann bewahrt uns das vor vielen Fehlern und hilft uns, das Leben zu leben, das er sich eigentlich für uns gedacht hat. Gott straft uns nicht, wenn wir von seinem Weg abweichen, oft strafen wir uns durch die Konsequenzen eines solchen Lebens eher selbst, - wovon er uns bewahren möchte, weil er uns liebt. Und wenn man lange einen falschen Weg verfolgt, so wie wir mit den Kindern, dann kostet das viel Kraft und Energie, denn jeden Schritt, jede Lüge, beispielsweise, den man einmal in die eine Richtung gemacht hat, muss man anschließend auch wieder zurückgehen.

 

Gerade in dieser Kultur hier, in der oft nur das als „moralisch falsch“ angesehen wird, was öffentlich geschieht und nicht das, was im Verborgenen ohnehin keiner bemerkt, finde ich es sehr wichtig, über das Thema Lüge und Wahrheit zu reden. Dass Lügen eben doch eine zerstörerische Kraft haben und das Potenzial, Beziehungen und auch das eigene Leben selbst kaputtzumachen.

 

 

 

Wir genossen die unglaubliche Natur um uns herum noch etwas weiter und machten uns dann wieder auf den Rückweg. Während es beim Aufstieg noch bewölkt gewesen war, brach nun das Sonnenlicht durch die Wolkendecke hindurch und ließ die massiven Eismassen über uns noch gewaltiger erscheinen. Ich verfiel in meinen „Woow“-Modus, über den sich ja auch Christian bereits amüsiert hatte, konnte jedoch einfach nicht anders. Manchmal gibt es nicht viele Worte, die etwas besser beschreiben als eben ein schlichtes, ehrfürchtiges „Wow“.

 

Über unsere gegenseitige Begeisterung, aber auch über andere tiefe Themen unterhielt ich mich während des Abstiegs mit Deborah und Julian. Janna war netterweise beim Lager geblieben, um auf die Zelte und alles weitere aufzupassen und dieses Opfer rechnete ich ihr hoch an. Ich persönlich wäre wirklich sehr traurig gewesen, diesen wunderschönen Ort nicht mit eigenen Augen sehen zu können.

 

Recht bald nach unserer Ankunft bereiteten wir dann Heiße Schokolade und Panetón, - diesen widerlichen Kuchen mit eingebackener Gelantine, der hier zu Weihnachten das Hauptnahrungsmittel der Menschen zu sein scheint, - für die ausgehungerte Meute vor. Und als sich dann alle ausreichend gestärkt hatten, hatten die Kinder erstaunlicherweise noch die Energie, mit uns Capture the Flag zu spielen. Obwohl das Gelände uneben und steinig und deshalb nicht unbedingt bestens geeignet für dieses Spiel war, hatten wir unheimlich viel Spaß zusammen und ich sehe Gottes Segen und Bewahrung darin, dass sich niemand verletzte. Er beschenkte nicht nur uns Mitarbeiter, sondern vor allem die Kinder mit einer tollen Erfahrung. Einige von ihnen hätten so etwas mit ihren Familien niemals machen können, allein schon wegen des Geldes.

 

Das Essen spendierten wir ihnen, viele hatten sich Ausrüstung ausleihen können und da wir von Diospi Suyana kamen, mussten wir nicht einmal etwas für unsere Unterkunft bezahlen!

 

 

 

Das Abendessen wurde in den drei verschiedenen Teams zubereitet, in die wir die Kinder eingeteilt hatten. Deborah hatte intelligenterweise einen Spielplan angefertigt, der während des ganzen Camps galt. Die Kinder bekamen nicht nur Punkte für gewonnene Spiele wie Capture the Flag oder den Kochwettbewerb, sondern auch für die saubersten Zimmer oder beispielsweise das Aufräumen einer bestimmten Sache. So war gewährleistet, dass alle die gesamte Zeit über hochmotiviert mit dabei waren, wenn es etwas zu helfen gab.

 

Auch bei dem Kochwettbewerb war die Motivation hoch, - und das, obwohl es abends bereits wieder zu regnen begonnen hatte. Unter ihren Regenschirmen saßen die Kids teilweise über dem Feuer, um ihr Essen zuzubereiten. Janna und ich waren dabei die Schiedsrichter und bewerteten Schnelligkeit, Kreativität und natürlich Geschmack. Dabei stach eine Gruppe ganz deutlich hervor, die aus denselben Zutaten, die jede Gruppe erhalten hatte, ihr Hackfleisch sogar in Stern- und Mondform angebraten hatte und den Tisch aufwendig mit Blumen dekoriert hatte.

 

Man muss die Kinder und ihre Ideen hier einfach lieb haben!

 

 

 

Eigentlich hatten wir geplant, alle gemeinsam in der Jurte zu schlafen, doch das Wetter hatte sich noch verschlimmert: In der Zeltplane der Jurte hatten sich wahre „Wassersäcke“ gebildet und in einigen Schlafsäcken stand bereits das Wasser. Darüber hinaus war es kalt, schlammig und begann schließlich sogar zu gewittern. Die Kinder mit den nassen Schlafsäcken zogen zuerst zurück in das Haus und es folgten die meisten, bis wir vier Mitarbeiter allein mit zwei tapferen Mädchen waren.

 

Am liebsten wäre ich vor allem der Steine in meinem Rücken wegen auch wieder in den Gruppenraum gegangen, doch ganz ehrlich: Wenn man die Chance hat, einmal tatsächlich auf über 4000 Höhenmetern zu zelten, dann macht man das. Punkt. Und zwar aller Widrigkeiten zum Trotz.

 

Bevor wir schlafen gingen, sagen wir mit den Kids noch Lieder und gingen abermals auf das Thema Lüge und Wahrheit ein, diesmal aber noch tiefgehender und zwar auf jeden Einzelnen bezogen.

 

Es gibt nämlich auch Lügen, die wir über uns selbst glauben. Lügen, die andere über uns sagen und die wir dann irgendwann glauben: Du bist hässlich. Du bist nichts wert. Niemand liebt dich.

 

Und tatsächlich können auch solche Lügen uns davon abhalten, Gottes Plan in unserem Leben zu sehen und umzusehen. Wir demonstrierten das mit Steinen, die das Böse einer Person in den Weg legte, bis Jesus diese Steine auf sich nahm und am Kreuz selber trug.

 

Denn was entscheidet, ist seine Wahrheit über uns und nicht das, was wir selbst oder andere von uns denken. Wir sind unheimlich wertvoll und geliebt. Unser Wert definiert sich nicht durch unsere Leistungen oder unser Aussehen oder dadurch, wie viele Leute wir unsere Freunde nennen. Er steht einfach von Anfang an fest. Gott hat uns von Anfang an geplant und voller Absicht geschaffen. Als seine Schöpfung sind wir unheimlich gut durchdacht und genial gemacht.

 

Er liebt uns wie ein Vater und nennt uns seine Kinder.

 

Und wie ein Vater hat er Gutes mit uns im Sinn.

 

Diese Botschaft war tief und berührend, denn viele dieser Kinder hier haben zuhause echte Probleme und hören öfter Dinge, die ihre Eltern beispielsweise von sich geben, wenn sie von der Arbeit betrunken nach Hause kommen. Manche von ihnen glauben diese Worte, natürlich, woher sollen sie es auch besser wissen? Jedenfalls gab es mindestens ein Mädchen, das ihre Tränen nicht zurückhalten konnte und ich war zutiefst bewegt. Von dem Tag, den Eindrücken, dem Abend und der Art und Weise, in der wir anschließend gemeinsam das Lied „You say“ auf Spanisch sangen.

 

„Wenn ich denke, dass ich schwach bin, sagst du, dass ich stark in dir bin.“, heißt es darin.

 

„Wenn ich denke, dass ich ungeliebt bin, zeigst du mir, dass ich zu dir gehöre und du mich liebst: Und zwar, so, wie ich bin. Wenn ich falle, hältst du mich fest und richtest mich wieder auf.

 

Und ich glaube das, was du über mich sagst.“

 

 

 

Erschöpft von den Ereignissen des Tages schlüpfte ich an diesem Abend in einer doppelten Schicht Kleidung in meinen Schlafsack, den ich unter gleich zwei dicken Felldecken zu isolieren versuchte.

 

Und, wer hätte es gedacht: Ich schlief erstaunlich gut.

 

Vermutlich waren wir aber auch so aktiv, dass ich gar nicht anders konnte.

 

Mein Körper holte sich einfach, was er brauchte und ich war ihm dankbar dafür.

 

 

Am nächsten Morgen wurde ich recht früh wach. Da ich allerdings ohnehin für das Frühstück zuständig war, war das auch ganz gut so. Und nur, weil ich mich so früh aus dem Schlafsack schälte, bot sich mir zum ersten Mal der völlig unverstellte Blick auf die dunstfreien Berggipfel.

 

Im Licht der aufgehenden Sonne sahen sie einfach noch viel größer und beeindruckender aus und ich sog die Aussicht in mich auf, als wäre es die Luft zum Atmen, von der in diesem Moment mein Leben abhing.

 

 

 

Durch das erwähnte Spiel waren wir recht schnell damit fertig, die Jurte abzubauen und die Planen zu säubern. Von weitem boten wir bestimmt ein lustiges Bild: Dutzende Kinder, die mit Feuereifer, teils barfuß, riesige Planen schrubbten und versuchten, nicht darauf auszurutschen.

 

Wir schlossen das „Campamento“ mit einem Gottesdienst, in dem es nun um Vertrauen ging: Denn einem Gott, der uns die Wahrheit sagt und nur das Beste für uns will, kann man bedingungslos vertrauen. Diese Message verknüpften wir mit einem Vertrauensspiel, bei welchem die Kinder mit verbundenen Augen zunächst über einen steinigen Pfad geführt wurden und anschließend einem Seil folgen mussten. An diesem hingen in regelmäßigen Abständen Plastikbecher, in denen es etwas zu ertasten gab. Gott hat viele Überraschungen für uns parat. Wir müssen uns nur trauen und losgehen und sehen, was der Weg für uns bereithält. Und wir dürfen wissen, dass er bei jeder Herausforderung an unserer Seite ist und uns die Kraft oder auch nötige Fähigkeit gibt, sie zu bestehen.

 

Der Preis des großen Spiels war eine große Tüte Chips für das Jungsteam; etwas wirklich Besonderes hier. Tja, und dann ging es auch schon los. Mit der Hilfe des freundlichen Lehrers Edgar hatten wir das Gepäck recht schnell wieder auf die beiden Autobusse geladen und los ging es: Zurück, Richtung Curahuasi.

 

Unser Mittagessen bestand aus den übriggebliebenen Süßigkeiten und auch auf der Rückfahrt genoss ich den tollen Blick, - diesmal andersherum, ins Tal hinab.

 

 

 

Es ist seltsam, an einen Ort zu kommen, an dem man erst drei Monate lang ist und ihn „zuhause“ zu nennen. Es ist aber gleichzeitig auch wunderschön, mit Kuchen und Keksen und Kaffee empfangen zu werden und nach so einem vollen Wochenende Leute zu haben, mit denen man Fotos und Erfahrungen teilen kann. Und am besten ist es...

 

na?

 

...völlig verschwitzt, verräuchert und dreckig erst einmal unter die Dusche zu springen.